H.R. Fricker – Networker und Influencer vor dem Internetzeitalter
Hans Ruedi Fricker (1947-2023) – ein begnadeter Vermittler, unermüdlicher Netzwerker und grossartiger Konzeptkünstler. Das Museum für Kommunikation verdankt dem im Mai dieses Jahres im Alter von 75 Jahren verstorbenen Künstler H.R. Fricker wichtige Impulse. Er bringt das Museum auf die Spur der weltweiten Mail Art-Bewegung und ist 1994 und 1998 Co-Kurator von Ausstellungen. Sein Mail Art-Archiv in der Museumssammlung sowie Werke von ihm und weiteren Mail Art-Künstler:innen in der Ausstellung zeugen von dieser fruchtbaren Zusammenarbeit. Ausserdem begrüsst seit 1998 seine Arbeit «Nur Sender kann man orten» unsere Besuchenden auf dem Weg zum Museumseingang.
Von der Ostschweiz ins weltweite Mail Art-Netzwerk
H.R. Fricker ist als Künstler weitgehend Autodidakt. Nach einer Verkäuferlehre in St. Gallen zieht er anfangs der 1970er Jahre nach Zürich, wird künstlerisch aktiv und besucht 1973/74 Sommerkurse an der Schule für experimentelle Gestaltung F+F. Er entscheidet sich für eine Ausbildung zum Heimerzieher in Rorschach, die er 1975 abschliesst. Im gleichen Jahr zieht er mit seiner Familie nach Trogen AR. Die Fotografie ist sein Medium und der öffentliche Raum sein Feld, das er mit Plakataktionen besetzt. 1981 entdeckt er die internationale Mail Art-Szene, gründet sein «Büro für künstlerische Umtriebe auf dem Land» und engagiert sich intensiv als Mail Art-Künstler. Bereits 1982 organisiert er seine erste Mail Art-Show «Artistic activities in the Country-side».
Der Mail Art-Künstler H.R. Fricker versteht sich als wachsamer Beobachter und Kommentator des Zeitgeschehens. Er ist gleichzeitig lokal wie global aktiv. Auf lokaler Ebene setzt er sich 1982 mit der Aktion «Ida Schläpfer» für das Stimm- und Wahlrecht für Frauen ein, im Kanton Appenzell Ausserrhoden erst 1989 eingeführt. H.R. Fricker verwendet das offiziöse Medium Briefmarke zu subversiven Zwecken. Seine selbstgestaltete Briefmarke ziert eine Bärin als Appenzeller Wappentier. Mit Kleinplakaten interveniert er im öffentlichen Raum.
Gleich doppelt verwendet H.R. Fricker das Medium Briefmarke für seinen kritischen Kommentar zur nationalen Fichenaffäre von 1991, indem er eine offizielle Jubiläumsbriefmarke aus dem Vorjahr mit minimalen Mitteln verfremdet und umdeutet.
Die Sprache nimmt neben gestalterischen Mitteln eine zentrale Bedeutung in H.R. Frickers Werk ein. So kreiert er im globalen Austausch mit Mail Artisten in Osteuropa zur Glasnost-Bewegung das Anagramm angstlos - glasnost. Ein typisches Beispiel für die in der Mail Art durch die Kleinheit der Medien bedingte Verknappung der Botschaften.
H.R. Fricker und das Mail Art-Network
H.R. Fricker ist ab den 1980er Jahren einer der bedeutendsten und einflussreichsten Mail Art-Künstler im weltweiten Netz. Gemeinhin werden die Wurzeln der Bewegung in der Fluxus-Bewegung verortet und ihre Anfänge in den USA der 1960er Jahre gesehen. Das Mail Art-Network basiert auf dem Austausch von künstlerischen Arbeiten über die Post, verwendet später auch weitere Medien wie Fax, Internet und Social Media. Der Postversand beschränkt die Grösse der Werke. Ausdrucksformen sind Künstlerbriefmarken, Stempel, Zeichnungen, Collagen, Fotokopien, Texte, kleine Objekte und gestaltete Briefumschläge.
Es geht um den freien, weltweiten Austausch von Ideen und eine Demokratisierung der Kunst. Die Mail Art-Bewegung sieht sich als Alternative zu den offiziellen Kunstkanälen wie Galerien und Museen. Von den Mail Artist:innen ist Rollenflexibilität gefordert. Sie sind nicht nur Produzent:innen, sondern gleichzeitig Kuratierende, Vermittelnde, Organisierende, Herausgebende und Verwaltende ihrer Archive. Als ungeschriebene Regeln gelten:
- direkter Austausch (Korrespondenz, Shows, Publikationen) ausserhalb des Kunstmarkts
- keine Jurierung der Beiträge bei Shows und in Publikationen
- Projektverantwortliche senden allen Teilnehmenden einen Katalog, mindestens eine Adressliste
- alle Beiträge bleiben bei den Veranstaltenden
H.R. Fricker setzt diese Rollenflexibilität vorbildlich um. Er bedient sich der typischen Mail Art-Medien Briefmarken, Stempel und Briefumschläge, kuratiert Mail Art-Shows und -Projekte. Er initiiert die beiden dezentralen Mail Art-Kongresse 1986 mit Günther Ruch und 1992 zusammen mit Peter W. Kaufmann. Bei diesen Anlässen treffen sich weltweit Mail Artist:innen und tauschen ihre Erfahrungen aus. Neue Impulse gibt H.R. Fricker mit seinem Tourism-Konzept. Er fordert auf, die Archive zu verkaufen und sich gegenseitig zu besuchen. Diese Forderung nach persönlichen Kontakten statt rein anonymem, postalischem Austausch sorgt für rege Debatten im Network. Als Künstler bleibt er offen für die neuen Kommunikationsmittel und nutzt Fax, e-Mail, Internet und ab 2008 auch Facebook für seine künstlerischen Interventionen.
H.R. Fricker und seine Schilder-Arbeiten
Ab Mitte der 1990er Jahre wendet sich H.R. Fricker vermehrt Schilder-Arbeiten und Kunst am Bau-Projekten zu. Er verschafft sich so breitere Anerkennung auch ausserhalb des Mail Art-Network. Am Anfang stehen seine Orte-Schilder. Wie schon bei der Künstlerbriefmarke nutzt H.R. Fricker das offiziöse Medium Hinweisschild für eigene, oft subversive Zwecke. Er interveniert mit seinen Schildern im öffentlichen Raum und erreicht so ein Publikum ausserhalb der üblichen Kunstkanäle. Seit 2007 ergänzt eine Homepage das Projekt Orte-Schilder (http://www.placeofplaces.com/ ).
H.R. Fricker setzt zahlreiche Schilder-Arbeiten als Auftragsarbeiten im öffentlichen Raum um. Er benennt Orte oder interveniert mit Begriffen und regt so die Betrachtenden zum Nachdenken an. So u.a. mit «Ortekataster für Bregenz» (1994), «Rückgrat. Ortekataster für St. Gallen», «Ort der Orte», Beschilderung der Kantonsschule in Trogen (1996), «Nur Sender kann man orten. Schild und Wechselschrift» am Museum für Kommunikation (1998), «Beschilderung von Vnà» (2004) und «The Walk/Lenzburger Boulevard» (2006). Mit der «Beschilderung der Schönburg» für den Hauptsitz der Schweizerischen Post in Bern (2000) geht H.R. Fricker einen Schritt weiter und lädt die Mitarbeitenden mit beweglichen Schiebern zum spielerischen Umgang mit seinen Begriffen ein.
H.R. Fricker der Kurator und Vermittler
H.R. Fricker legt in seinen Projekten grosses Gewicht auf die Vermittlung und die Interaktion mit dem Publikum. Von 2002 bis 2006 realisiert er das «Alpstein Museum», für das er kurzerhand das Alpsteingebirge und die dortigen Berggasthäuser zum Museum erklärt. Die Gasthäuser kennzeichnet er per Emailschild mit «Alpstein Museum» und in den Gaststuben platziert er Bibliotheken und vermittelt so lokale Themen.
Als Kunst am Bau-Projekt für das Alterswohn- und Pflegezentrum Hof in Speicher initiiert H.R. Fricker das «Museum für Lebensgeschichten» (2006). In wechselnden Ausstellungen zeigt es die Lebensgeschichten von Persönlichkeiten aus der Gegend und dokumentiert im halböffentlichen Bereich die persönlichen Geschichten der im Alterswohn- und Pflegezentrum lebenden Menschen. Das Museum erhält 2009 eine Auszeichnung beim European Museum of the Year Award (http://www.museumfuerlebensgeschichten.ch/ ).
Für H.R. Frickers Haltung, mit der Kunst zu den Menschen gehen, steht auch das Projekt «Steingarten Murgtal» (2007). H.R. Fricker gibt auf einer rund zehn Kilometer langen Wanderroute von der Alp Plätz bis zum Ober Murgsee 140 Gesteinsbrocken Namen wie Hundstein, Angststein oder Wolfs Felsen. Er ergänzt einige mit einer Anleitung zu einer kleinen Handlung, z.B. nicht besteigen, nur umrunden, und regt so die Wandernden zum genaueren und spielerischen Hinschauen an (https://www.steingarten-murgtal.ch/ ).
H.R. Fricker und das Museum für Kommunikation
Das Museum wird 1989 auf die Aktivitäten von H.R. Fricker im internationalen Mail Art-Netzwerk aufmerksam. Der Kontakt zum Künstler führt dazu, dass das Museum diese Kunstbewegung aktiv zu sammeln beginnt. Eine erste Sammlungsbasis legen Schenkungen von H.R. Fricker und weiteren Schweizer Mail Art-Künstlern wie Günther Ruch und Jean-Marc Rastorfer. Es folgen Ankäufe von für die Mail Art bedeutenden Werken von Fluxus-Künstler:innen wie George Maciunas, Yoko Ono oder Robert Watts.
1994 präsentiert das Museum die Ausstellung «Mail-Art – Netzwerk der Künstler», an der H.R. Fricker als Co-Kurator massgeblich beteiligt ist. Ergänzend lanciert H.R. Fricker das Fax-Projekt «The Face of the Network», das im Network auf grosse Resonanz stösst. Im Rahmen der Vernissage gehen aus dem weltweiten Network über 160 Beiträge ein. H.R. Fricker empfängt diese, vergrössert sie auf das Format A3 und hängt sie an Leinen im Ausstellungsraum auf.
Im Anschluss an die Ausstellung vertraut H.R. Fricker 1995 sein Mail Art-Archiv dem Museum an. Bereits 1987 hat er einen Stempel «SELL YOUR ARCHIVE / MAKE TOURISM» kreiert und im Network verwendet. Er unterstützt uns bei der Organisation der Ablage und der Erschliessung des Bestandes. Mit dem Erlös für das Archiv und dessen Bearbeitung setzt er aber nicht nur sein Tourism-Konzept um, sondern beschafft sich erstmals einen Computer mit Farbdrucker, experimentiert mit diesen neuen Mitteln intensiv und nutzt sie zur Gestaltung seiner Markenbogen und Briefumschläge, die er grosszügig im Network zirkulieren lässt.
Nach Aufarbeitung des Archivs von H.R. Fricker findet 1997 das Archiv des in den 1980er und 90er Jahren aktiven Mail Art-Künstlers Marcel Stüssi (1943-1997) Eingang in die Sammlung. Zu diesem Anlass realisiert das Museum 1998 mit Unterstützung von H.R. Fricker eine weitere Mail Art-Ausstellung «Kostproben aus zwei Mail Art Archiven. Die Mail-Art Archive H.R. Fricker und Marcel Stüssi». Im gleichen Jahr realisiert er im Aussenraum des Museums ausserdem die Kunst am Bau-Arbeit «Nur Sender kann man orten, Schild und Wechselschrift».
Das Museum verfolgt die Entwicklung von H.R. Frickers Mail Art-Aktivitäten aufmerksam weiter und ergänzt sein Archiv laufend mit neuen Arbeiten bis kurz vor seinem Tod. Das Museum für Kommunikation hat H.R. Fricker viel zu verdanken. Wir werden das Werk von H.R. Fricker weiterhin pflegen, der Forschung zugänglich machen und für Ausstellungen zur Verfügung stellen. Der Aufmerksamkeit im Mail Art-Network ist H.R. Fricker sicher. Das Network hat auch seine Zusammenarbeit mit unserem Museum registriert und durchaus kontrovers kommentiert. Darauf spielt auch das Porträt an, mit dem der US-amerikanische Mailartist Do Daa (Ed Higgins III) H.R. Fricker würdigt. Das Porträt dient als Vorlage für einen seiner Artstamps und zirkuliert mit der Botschaft «RECOGNIZING STAMP ARTISTS, NATIONAL POSTAL MUSEUM» im Network.
Wir hoffen, dass der innovative Konzeptkünstler H.R. Fricker weiterhin inspiriert und auch ausserhalb der Mail Art-Szene die Beachtung findet, die er und sein Werk verdienen.
Autor
Karl Kronig, Leiter Sammlungen 1988-2022, Museum für Kommunikation, Bern
Literatur
- H.R. Fricker, I am a Networker (sometimes). Mail-Art und Tourism im Network der 80er Jahre, St. Gallen 1989.
- Markus Landert und Ute Christiane Hoefert, Kunstmuseum Thurgau, Warth (Hrsg.), H.R. Fricker: Erobert die Wohnzimmer dieser Welt!, Zürich 2012.
- Ute Christiane Hoefert, Rollenflexibilität und Demokratisierung in der Kunst. Der Konzeptkünstler, Mail Artist und Networker H.R. Fricker, Heidelberg, arthistoricum.net, 2021.
Beste Grüsse aus Berlin
Herzlichen Dank.