Meine Kassetten und ich
Fast 20 Jahre meines Lebens schlage ich mich mit Lou Ottens Erfindung von 1963 rum: der Tonbandkassette. Statt der bescheidenen Qualität des Musikerlebnisses ist aber ganz anderes in Erinnerung geblieben. Eine kleine Ode an mein Begleitmedium der 1980er- und 1990er-Jahre.
Mein erstes Kassettengerät - die kleine Wunderkiste in meinem Kinderzimmer! Ein flacher Lautsprecher, eine Vertiefung um die Kassette einzulegen, fünf grosse Tasten und eine kleine mit der Beschriftung Eject - alles hintereinander angeordnet. Die rote Record-Taste gilt als grosser Spielverderber. Sie frisst ärgerliche Lücken in meine geliebten Kasperli-Kassetten. Meistens erwische ich aber den richtigen Knopf und lasse das Tonband über die Tonköpfe gleiten. Gebannt lausche ich den Geschichten, die mir die Wunderkiste erzählt.
Selbstbestimmt werde ich zum DJ meines Kinderzimmers, lasse die Häx Nörgeligäx auch mal auf Highspeed laufen. Natürlich habe ich schnell rausgefunden, dass man das Tape dreimal so schnell laufen lassen kann, wenn man die Play-Taste nicht ganz bis zum Anschlag runterdrückt. Die hohen und schnellen Stimmen sind nicht risikofrei - nach kurzer Zeit folgt meistens ein knirschendes Geräusch und dann verstummt der Lautsprecher. Ich höre nur noch das Surren des blockierten Drehmotors. Mist! Vorsichtig hebe ich mit dem Eject-Knopf die Kassette raus und ziehe das entgleiste Band der Kassette zwischen den Tonköpfen heraus. Zum Glück ist das Ding zäh - es lässt sich fast immer rausfummeln, auch wenn es danach dramatisch zur Handorgel verknittert ist.
Nun beginnt die mühsame Handarbeit: Knoten auflösen, das Band möglichst glattstrecken und dann mit dem Bleistift wieder ins Gehäuse zurückkurbeln ohne dass es verdreht ist. Eine gefühlte Ewigkeit dauert das. Doch vermutlich sind es genau diese Momente, in denen ich meine Bindung zum Tape aufbaue - ein Medium, das mich jahrelang begleitet. Und das ich heute noch ein bisschen vermisse, wenn ich ehrlich bin.
Vom Holzstück zum Massenmedium
Zu diesem Zeitpunkt liegt die Erfindung der Kompaktkassette bereits gut 20 Jahre zurück. Entwickelt hat sie der Niederländer Lou Ottens zusammen mit seinem Team bei Philips in Hasselt (Belgien). Tonbänder gibts bereits Ende der 1950er-Jahre, doch sie sind gross und unhandlich. Der Erfinder und Ingenieur Ottens ist der Meinung, dass das neue Medium in seine Jackentasche passen müsse. Der Legende nach lässt er sich ein Stück Holz von dieser Grösse zuschneiden. Das ist nun der Massstab, dem die neue Entwicklung genügen muss.
Am 28. oder 30. August 1963 (das Datum lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren) präsentiert Philips dann an der Internationalen Funkausstellung IFA in (West-)Berlin die brandneue Entwicklung: die Kompaktkassette. Die Resonanz ist erst mal überschaubar. Viel Lärm gibts vor allem intern, weil man nicht alle informiert hat. Ein anderes Team arbeitet nämlich in Wien zusammen mit Grundig an einem luxuriöseren Kassettenprojekt. Dort ist der Ärger gross - Grundig verlässt das Projekt wutentbrannt und bringt zwei Jahre später ein eigenes Kassettensystem auf den Markt. Ohne Erfolg.
Die Kompaktkassette hingegen wird zum Welthit. Schätzungen zu Folge wird in den nächsten Jahrzehnten weltweit die unglaubliche Menge von bis zu 100 Milliarden Kassetten verkauft. Dazu trägt auch der Walkman bei (lanciert von Sony 1979), die Paradeanwendung für die Kassette. Lou Ottens steckt da bereits mitten in einem neuen Projekt. Er ist nämlich auch einer der massgeblichen Entwickler hinter der Compact Disc (CD), die 1981 vorgestellt wird.
Raus aus dem Kinderzimmer
In meinem Kinderzimmer spriessen langsam die ersten Pickel, die Bravo-Poster an den Wänden wechseln, und der Inhalt der Kassetten wandelt sich: über Emil zu Otto Waalkes, weiter zu Pink Floyd, Grunge, Doom Metal und mit einem Twist zum Rap. Der Kassette bleibe ich treu. Sehr sogar. Liebevoll gestalte ich die Cover meiner Kassetten mit kleinen Collagen, Zeichnungen und Bastelarbeiten.
Längst ist eigentlich die CD das Trägermedium für Musik geworden, aber die Preise sind hoch. 30 Franken für ein Album. Das passt nicht in mein bescheidenes Budget. Also kaufe ich mir lieber ein paar Maxell Typ II, 90 Minuten. Darauf überspiele ich dann die CDs von Freunden, nehme vom Radio auf und erstelle erste Mixtapes.
Noch bis in die späten 1990er sind diese Kassetten und mein Walkman meine täglichen Begleiter, mein Sound immer mit dabei.
Bis heute kann ich mich nicht von einigen Kassetten - meist Mixtapes von Freunden - lösen. Obschon ich seit Jahren kein Abspielgerät mehr dazu habe. Zu jeder dieser Playlists gehört in meinem Kopf ein Bildreigen, der automatisch mit den Songs startet und mich in die Vergangenheit entführt.
Lustigerweise hat einer der Freunde meines Sohnes kürzlich Otto Waalkes wiederentdeckt. Jetzt hören die 9-jährigen „Hilfe, Otto kommt!“ mit den Hänsel und Gretel Variationen, wie ich vor fast 40 Jahren. Ich sehe noch die rot-gelben OTTO-Buchstaben und das schwarz-weiss Bild vor mir, die auf meinem Kassettencover prangten. Ich habe sie damals aus Illustrierten ausgeschnitten, um das Cover würdevoll zu gestalten.
Der Inhalt ist der Gleiche, die Mediennutzung hat sich allerdings deutlich verändert. Mein Sohn streamt das alles von einer Plattform, die 100 Millionen Songs anbietet. Wie wird wohl seine Erinnerung daran einmal aussehen?
Autor
Nico Gurtner, Leiter Marketing & Kommunikation, Museum für Kommunikation, Bern
Kommentare (2)
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Raffaeleam 13.10.2024AntwortenDie Kassette ist nicht tot. Es gibt eine ziemlich grosse Community, die weiterhin Kassetten kauft und aufnimmt. An meiner Hauptanlage habe ich selbst vier Kassettengeräte, die regelmäßig im Einsatz sind. Musik in den Händen zu halten, hat nach wie vor seinen Reiz. Vor drei Jahren habe ich mit MiniDisc angefangen und finde sie sogar noch sexier als die Kassette.