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Zehn Gebote für eine nachhaltige Zukunft

Warum bloss schieben 100 Leute eine Tonne Stein quer durch die Schweiz von Zürich nach Bern? Zu Fuss, mit Handkarren! Haben die nichts Gescheiteres zu tun? Die Geschichte des verrücktesten Kunsttransportes des Jahres: Die «Zehn Gebote Vol. 2» kommen nach Bern.

Diese Story handelt von Websites mit Büroöffnungszeiten und versenkten Steinplatten, von einer irren Idee und einem gemeinsamen Kraftakt, von vielen geplatzten Reifen und noch mehr neo-idyllischen Orten. Aber was hat das alles mit Planetopia zu tun? Gehen wir der Reihe nach.

 

Sonderaufgaben aus der Ostschweiz

Die Geschichte beginnt in St. Gallen bei Frank und Patrik Riklin. Wer die Website ihres Ateliers für Sonderaufgaben besucht, bekommt schnell einen Eindruck davon, dass die Zwillinge und Konzeptkünstler nicht auf ausgetretenen Pfaden unterwegs sind. Eine Website, die demnächst erreichbar sein wird, dann aber nur zu Büroöffnungszeiten? Das wirft bereits Fragen auf. Wie sinnvoll ist es eigentlich, dass alles immer erreichbar sein soll? Wann machen wir mal Pause?

Das ist die Kernkompetenz von Frank und Patrik – sie sorgen immer wieder mit überraschenden Ideen für Denkanstösse. Als im Frühling 2020 die Corona-Pandemie die Welt in eine erste Zwangspause schickt, nutzen die beiden die Zeit, um die Essenz ihrer Arbeit zu ergründen. Es entstehen zehn Leitsätze, die dazu auffordern das eigene Denken und Handeln zu hinterfragen. Im Juli 2020 meisseln sie die Sätze in zehn Tagen vor dem Kloster in St. Gallen in Sandsteinplatten und schaffen das Werk «Zehn Gebote Vol. 2». Mitten im Wandel, sich verschiebenden Wertesystemen und orientierungslosen Gemeinschaften soll das schwergewichtige Werk Halt bieten – eine Tonne Sandstein als Anker für die Zukunft.

Die Gebrüder Riklin posieren vor dem Kloster St.Gallen, wo sie gerade die "Zehn Gebote Vol.2" in Stein gemeisselt haben. - vergrösserte Ansicht
Alle Fotos werden zur Verfügung gestellt vom Atelier für Sonderaufgaben (sonderaufgaben.ch)

Öffentliche Aus(einander)setzung

Kurz nach der Erschaffung des Werks, setzen die Künstler die Gebote in Zürich aus. Gleich neben dem Zürcher Finanzdistrikt versenken sie gemeinsam mit den Komplizen des Blockchain-Startups Fyooz das Werk im Wasser des Schanzengrabens. Ein subversiver Akt, der die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Inhalt anregt und am gängigen Wirtschaftsdenken rüttelt.

Der Kanton Zürich zeigt dafür allerdings wenig Verständnis. Er ordnet dem Gewässerschutz zuliebe umgehend die Entfernung der Steinplatten an. Rund einen Monat nach der Versenkung fischen Riklins das Kunstwerk wieder aus dem Wasser. Während sich die Künstler auf die Suche nach einem Kunstasyl für ihr Werk machen, landen die Steinplatten erst einmal im Keller von Fyooz.

Ein Mann reinigt unter Wasser mit einer Bürste die versenkten zehn Gebote - vergrösserte Ansicht
Nachdem die Gebote im Schanzengraben ausgesetzt worden sind, werden sie regelmässig gepflegt.

Planetopia bietet eine neue Heimat

Zur gleichen Zeit sitzt rund 200 Kilometer westlich von St. Gallen ein Team des Museums für Kommunikation zusammen und startet ein neues Projekt. Unter dem Titel Planetopia – Raum für Weltwandel befasst sich das Museum in den nächsten zwei Jahren mit der ökologischen Krise. Es sind dringend neue Perspektiven nötig, damit wir diesen grössten Kraftakt der Gegenwart bewältigen können. Mit den zehn Geboten der Riklin-Brüder, die zu nachhaltigem Denken und Handeln anregen, bietet sich die ideale Chance für eine spannende Zusammenarbeit.

Wir bewerben uns um das Kunstasyl und erhalten von insgesamt 25 Bewerbungen den Zuschlag. Die «Zehn Gebote Vol. 2» kommen nach Bern vors Museum für Kommunikation! Die zweite Welle der Pandemie verhindert allerdings vorerst einen Transport. Dafür reift eine Idee.

Die Gebrüder Riklin schmieden den verrückten Plan, die Steine zu Fuss von Zürich nach Bern zu bringen. Zu Fuss?! Zwischen dem Keller in Zürich und dem Museum für Kommunikation liegen über 120 Kilometer. Die zehn Steinplatten wiegen zusammen eine Tonne. Das klingt zuerst einmal verrückt. Und genau darum sind wir vom Museum Feuer und Flamme. Die Parallelen zur Bewältigung der ökologischen Krise liegen auf der Hand – auch da vergeht einem schnell die Lust, verlässt einen der Mut. Zu gross die Aufgabe, zu gewaltig die Herausforderung. Das schaffen wir nie… oder?

Also beweisen wir mit den «Zehn Geboten Vol. 2» das Gegenteil. Dazu brauchen wir vor allem Menschen, die mithelfen. Wir machen uns auf die Suche.

 

Von der wahnwitzigen Idee zur Realität

Am 28. Juni 2021 treffen wir in Zürich an der Limmatstrasse eine Gruppe von motivierten Komplizinnen und Komplizen für die erste Tagesetappe. Niemand hat eine Ahnung, was uns da genau erwartet. Trotzdem haben wir 107 Personen gefunden, die auf einem Teilstück mithelfen! Begleiterin Nummer 108 ist die Ungewissheit. Sie ist immer mit dabei auf dieser Reise von der Wirtschaftsmetropole in die Bundesstadt.

Wir hieven die zehn Steinplatten aus dem Keller ans Tageslicht und montieren sie auf Sackkarren. Dann zieht die kleine Karawane los, durch die morgendliche Langstrasse, immer Richtung Bern. Die Passanten bleiben stehen und wundern sich. Was genau geht hier vor sich? Andere spornen uns an. Die Motivation ist zu Beginn ohnehin gross. Doch mit der Zeit spürt man die 100 Kilogramm auf dem Sackwagen, vor allem wenn es bergauf geht! Dann wachsen die inneren Widerstände. Weshalb tue ich mir das an? Das Schieben ist auch eine Art Meditation. Es öffnet den Raum zum Nachdenken. Über sich selbst. Oder über den hohen Grad an Bequemlichkeit, den wir im Alltag geniessen, und den wir mit viel verbrauchter Energie und Umweltbelastungen bezahlen. Am Ende des Tages sind dann alle stolz auf das Erreichte. Erschöpft und glücklich. Niemand bereut es, dabei gewesen zu sein. Es ist ein Erlebnis, das niemand so schnell vergessen wird!

Mehrere Personen schieben die schweren Gebotstafeln auf Sackkarren im Regen durch den Wald.
Die Karawane mit den Gebotsschiebenden arbeitet sich einen steilen Hügel hoch.
Die Gebotsschiebenden durchqueren eine Unterführung.
Nahaufname eines geplatzen Pneus des Sackwagens.
Unter einer Brücke ist die Karawane mit den zehn Geboten zu sehen, darüber fährt ein schwerer Lastwagen.
Die Gebotsschiebenden stehen aufgereiht am Strassenrand, im Hintergrund ist ein grosser Strommast und das AKW Gösgen zu sehen.
Eine Gebotsschieberin auf einer Landstrasse, kritisch beobachtet von einem Mann, der im Feld steht.
Eine Hand wird mit Gaze eingebunden.
Zwei Gebotsschiebende kaufen mit den schweren Gebotstafeln in einem Supermarkt Verpflegung ein.
Tiefe Spuren im Matsch zeugen von einem regnerischen Tag mit schwierigem Terrain.
Über einen steinigen Feldweg arbeiten sich die Gebotsschiebenden weiter vorwärts.
Zwischen Brücken und Strassen eingeklemmt erreichen die Gebotsschiebenden den Stadtrand von Bern.
Und plötzlich diese Leichtigkeit! Die Gebotstafeln liegen vor dem Museum für Kommunikation, ein Kind springt von einer Tafel zur nächsten.

So geht die Reise immer weiter. Steinig und steil bergauf, unter sengender Sonne auf scheinbar endlosen Landstrassen, im Dauerregen über schlammige Feldwege, mitten durch den Supermarkt und mit Unterbrüchen wegen geplatzter Reifen. Zehn Tage lang, jeden Tag rückt das Ziel 10-15 Kilometer näher. Wir passieren seltsame Orte – eher Unorte, wo Menschen, die zu Fuss gehen, offensichtlich nicht vorgesehen sind, Die Gebrüder Riklin sprechen dann jeweils von neo-idyllischen Orten. Die Schweiz ist reich an Neo-Idyllen, merken wir. Am 9. Juli erreicht die kollektive Verschiebung Bern, der spektakulärste Kunsttransport des Jahres ist am Ziel!

Die Aktion ist der öffentliche Auftakt für unser Projekt Planetopia. Für die nächsten Monate sind die «Zehn Gebote Vol. 2» auf dem Vorplatz des Museums für Kommunikation zu Gast und erinnern daran, was mit einem gemeinsamen Kraftakt möglich ist. Zusammen im Team fühlten wir eine ungeahnte Dynamik. Was unmöglich schien, wurde zur gemeinsamen Herausforderung und machte plötzlich Spass! Dieser Perspektivenwechsel ist das Beeindruckendste an dieser Aktion und der Schlüssel zum Erfolg. Je mehr Menschen mithelfen, desto grösser die Chance, dass wir den Weg bewältigen – ein Gedanke, der auch in Bezug auf die ökologische Krise inspiriert. Gelingt es uns, diese Herausforderung ebenso motiviert und positiv anzunehmen?

TRANSPORTWEG

  • Tag 1: Mo, 28.6. / Zürich - Spreitenbach (15,4 km, Höhenmeter: 61)
  • Tag 2: Di, 29.6. / Spreitenbach - Niederrohrdorf (5,9 km, Höhenmeter: 259)
  • Tag 3: Mi, 30.6. / Niederrohrdorf – Möriken-Wildegg (11,4 km, Höhenmeter: 84)
  • Tag 4: Do, 1.7. / Möriken-Wildegg - Aarau (11,4 km, Höhenmeter: 42)
  • Tag 5: Fr, 2.7. / Aarau - Olten (12,4 km, Höhenmeter: 57)
  • Tag 6: Mo, 5.7. / Olten - Murgenthal (10,6 km, Höhenmeter: 40)
  • Tag 7: Di, 6.7. / Murgenthal - Thunstetten (10,6 km, Höhenmeter: 64)
  • Tag 8: Mi, 7.7. / Thunstetten - Höchstetten (12,5 km, Höhenmeter: 39)
  • Tag 9: Do, 8.7. / Höchstetten - Hindelbank (13,4 km, Höhenmeter: 5)
  • Tag 10: Fr, 9.7. / Hindelbank – Museum für Kommunikation, Bern (14,9 km, Höhenmeter: 141)

 

Alle zehn Gebote (engl./deutsch)

Autor

Nico Gurtner, Gebotsschiebender auf dem ersten und den letzten 15 Kilometern und Leiter Marketing & Kommunikation, Museum für Kommunikation, Bern

Fotos

Frank und Patrik Riklin, Atelier für Sonderaufgaben (sonderaufgaben.ch)

Kommentare (1)

  • Sascha R. Bauer
    Sascha R. Bauer
    am 31.08.2021
    Die Zehn Gebote Vol. 2 durfte ich als Teilnehmer, resp. Gebotsschieber von Zürich nach Bern 10 Tage lang begleiten. Während dieser unüblichen Reise durfte ich die durch Frank und Patrik Riklin in Worte gefassten Leitsätze verinnerlichen. Dabei wurde mir von Tag zu Tag bewusster, dass ich seit ca. 2012 in einer intrinsischen Form diesen bereits gefolgt bin und sie mir die notwendige Energie bereits geschenkt haben, um meinen Weg als Gründer des Start-Ups «The Social Mall» immer ein Stück weiter zu gehen, obwohl die Hürden, das meist bestehende Unverständnis oder das Risiko zum Teil sehr gross waren.

    Wie dies von Nico Gurtner des Museum für Kommunikation wunderbar beschrieben wurde, sind die Herausforderungen, die wir als Gesellschaft vor uns haben enorm gross.

    Ich persönlich habe das Gefühl viele Menschen wünschen sich eine Veränderung, doch kommen nie in eine effektive Handlung. Zu oft wird aufgrund der sich beispielsweise stellenden Fragen lieber der Status quo beibehalten:
    - Warum man gerade selbst die Person sein soll, die aktiv werden muss?
    - Gibt es nicht genügend Andere, die das eigentlich tun müssten?
    - Warum soll die begrenzte Zeit auf Erden für einen Wandel eingesetzt werden, der vielleicht noch Einschränkungen oder Veränderungen in den Gewohnheiten mit sich führt?
    - Wieso lebe ich nicht einfach meine Zeit hier auf Erden in maximalem Luxus?
    - Warum soll ich denn meinen Status reduzieren?
    - Für was und für wen soll ich das alles tun?
    - u.a.

    Aus meinen bisherigen Lebenserfahrungen kann ich nachvollziehen, dass viele Menschen sich hauptsächlich für das eigene Wohl interessieren, doch durfte ich zum Glück auch schon, und immer wieder, mit einigen Menschen darüber sprechen, denen es auf einmal gesundheitlich nicht mehr so gut ging oder einen angesehenen Arbeitsplatzverlust hinnehmen mussten. Dann auf einmal begannen sich die Ansichten dieser Menschen zu verändern und auch die Fragestellungen.

    Einige Erlebnisse in meinem Leben, für welche ich sehr dankbar bin und welche teilweise auch schmerzhaft waren, aber auch grösster Segen (z.B. die Geburt meines Sohnes) oder die Unterstützung von Familie und Freunden, haben mich schon in den frühen 30iger Jahren meines Lebens mit Herausforderungen vertraut gemacht, die meine Ansichten veränderten. Immer stärker wuchs das Gefühl in mir in einem Korsett zu stecken, das mir die Luft nahm und ich fühlte mich zunehmend gelähmt. Mich weiterhin in einer Welt bewegen zu müssen, welche immer öfter eine Art von Schizophrenie in Form von paradoxen Vorgehensweisen darstellte. Dies wollte ich nicht einfach weiter so hinnehmen. Aus diesem Grund entschied ich mich für die Selbständigkeit, um neue Modelle mit mehr Beziehungen zu Menschen, Tieren und Natur sowie auf Basis einer Kreislaufwirtschaft zu erschaffen.

    Frank und Patrik Riklin haben für mich mit den «Zehn Geboten Vol. 2» ein unvergleichliches Kunstwerk geschaffen, welches in seiner Art der Neutralität, der Offenheit zur subjektiver Auseinandersetzungstiefe und Gleichstellungscharakteristik einmalig ist.

    Rückblickend auf meinen privaten und beruflichen Lebensweg wäre ich froh gewesen, wenn diese 10 Leitsätze mir früher visuell zur Verfügung gestanden wären, dann hätte ich meine innere Stimme noch rascher einschätzen können und die daraus resultierenden Entscheide gefällt.

    Abschliessend möchte ich mich bei allen Menschen, die ich bis heute in Zusammenhang mit den Zehn Geboten Vol. 2 kennenlernen durfte, für den wertvollen Austausch, Eure Offenheit und Eure mir geschenkte Wertschätzung danken.

    Für mich entstand durch die «Zehn Gebote Vol. 2» das Fundament für eine #funtartischeGemeinschaft*.

    Herzlichst,
    Sascha R. Bauer
    Founder
    The Social Mall

    *funtartisch ist eine Wortschöpfung entstehend aus «fantastisch», «grossartig» und aus dem Englischen «fun» zu Deutsch «Spass»

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