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156 – Die Nummer des Lasters

Die Liberalisierung des Telekommarktes vor Augen, versucht die PTT nach 1990 zusätzliche Geschäftsfelder zu erschliessen. Eine Idee der Stunde ist der «Telefonkiosk» – die Einführung von privat betriebenen Dienstnummern. Die neu lancierten 156er-Nummern laufen gut. Im Angebot ist meist Telefonsex. Insbesondere in den Jahren 1991-1993 kassieren die PTT und die privaten Anbieter enorme Summen. Ende 1993 wird der freie Markt aus Jugendschutzgründen reguliert, das anonyme Anrufen wird unterbunden. Derweil landet der PTT-Generaldirektor vor Gericht und wird wegen Gehilfenschaft zu unzüchtiger Veröffentlichung und Verbreitung von Pornografie angeklagt.

Wie bereits zuvor in den USA und Grossbritannien, zeichnen sich in der Schweiz um 1990 Liberalisierungstendenzen ab. Das staatliche Monopol der PTT im Bereich Post und Telekommunikation steht zunehmend in der Kritik. Das neue Fernmeldegesetz von 1991 legt die Grundlage für erste Liberalisierungsschritte und passt das Recht an den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) an. Künftig muss das Telefon beispielsweise nicht mehr bei der PTT gemietet werden. Eine grosse Neuerung, es kann nun in einem Geschäft gekauft werden! Einen liberalisierten Telekommunikationsmarkt vor Augen, sucht man in den Teppichetagen der PTT nach neu zu erschliessenden Geschäftsfeldern. Inspirationen liefern wohl bereits freiere Telefonmärkte in Grossbritannien oder Holland. In Frankreich läuft der Anfangs der 1980er-Jahre lancierte «Minitel»-Dienst sehr gut. In Erinnerung bleiben davon der Code «3615 Ulla» und die «messageries roses». In beiden Fällen sind Erotikchats in einer Art «Internet avant la lettre» gemeint. In Frankreich wird damit viel Geld verdient. Am 1. Oktober 1991 lanciert die PTT in der Schweiz den «Telekiosk». Über Telefonnummern mit der Vorwahl 156 können private Anbieter gegen eine Gebühr von anfänglich 350 Franken Dienstleistungen anbieten. Das Einkassieren der Telefonrechnung übernimmt die PTT. Bisherige Dienstnummern wie die Auskunft (111), die sprechende Uhr (161) oder Sportresultate (164) erhalten private Konkurrenz. Statt regionale Wetterberichte oder Börsenkurse setzen sich am Markt schnell andere Bedürfnisse durch: Erfolgreich laufen Horoskope und Telefonsex ab Band. Anrufer:innen zahlen bis zu zwei Franken pro Minute. 50 Rappen gehen davon an die PTT – der Anbieter kassiert 1.50 Franken. Noch gibt es keine Jugendschutzmassnahmen – niemand wird am Anrufen gehindert. Dies rechnet sich, die sonst eher bieder wirkende PTT verdient 1992 mit Telefonsex 39 Millionen Franken (teuerungsbereinigt entspricht das 2023 rund 48 Millionen Franken)!

Ein lukratives Nebengeschäft

Der liberale Traum eines grossen europäischen Wirtschaftsraumes ohne Grenzen realisiert sich in Bezug auf Telefonsex schnell. «Spiegel TV», ausgestrahlt auf dem privaten Fernsehsender «RTL» und produziert vom deutschen Nachrichtenmagazin «Der Spiegel», portraitiert 1991 eine der ersten Firmen, die in Zürich Geld mit Telefonsex verdient. Die Quelle ist ein einsichtsreiches Zeitzeugnis und soll hier nicht vorenthalten werden. Der Inhalt ist aber aus heutiger Sicht problematisch und klar sexistisch. Die Fernsehsendung gibt die patriarchalen Strukturen in diesem Geschäftsmodell wieder: Als «sexuelle Entwicklungshelfer» kommen Telefonistinnen, Texter und Redakteure aus Holland in die Schweiz. Verwaltungsrat der «Translite Commerce AG» ist der Schweizer Anwalt Peter Kubli. Die Männer konzipieren ein Produkt für andere Männer, in dem Frauen als sexuelle Dienstleisterinnen für männliche Kunden auftreten – und zudem am unteren Ende der Anstellungshierarchie für ihre Chefs und den Staatsbetrieb grosse Gewinne einfahren.

Der Anwalt Kubli gibt am TV bereitwillig Auskunft und ist auch – allfällige rechtliche Konsequenzen im Hinterkopf – für «saubere Sprache» zuständig. Wie in der Pop- und Rockmusik längst Usus (vgl. Peter Gabriel: «Sledgehammer», 1986 oder Madonna: «Like A Prayer», 1989) praktizieren die beteiligten Akteure und Geschäftsmänner die Kunst der Umschreibung und Andeutung. Nebst Gestöhn drehen sich die 156er-Geschichten ab Band um «die Quelle», «das zweite Herz» oder «das Gewürzkästchen» – damit ist die Vulva gemeint. Im Falle des männlichen Gemächts wird von «Tiger» und «Schraubenzieher» gesäuselt und gestandene Milizsoldaten dürften im hier diskutierten Kontext wohl auch die Bedeutung von «Lanze», «Gewehr» oder «Granate» verstehen. Kubli gibt mit den gemachten Beispielen eine Art Destillat von klassischen Geschlechterstereotypen und gesellschaftlichen Rollenbildern aus dem späten 20. Jahrhundert wieder.  Die männliche Lesart dominiert. Der verletzliche, schöne und geheimnisvolle weibliche Sex wird dem kraft-, gewaltvollen oder gar zerstörerischen männlichen Sex gegenübergestellt.

Insbesondere 1991-1992 ist das Geschäft hoch lukrativ. Der Kassensturz berechnet im Fall der Firma «Translite Commerce AG» Einnahmen von 100'000 Franken pro Tag! Eine Erfolgsstory wird die Firma gleichwohl nicht. Kubli reisst alle Aktien an sich und bootet die holländischen Gründer aus, noch 1992 werden alle Mitarbeiter:innen entlassen und es folgen Prozesse und Strafverfahren. Gleichzeitig entwickelt sich der 156er-Markt sehr dynamisch. Bald folgen erotische Live-Dialoge und über die «Plauderbox» werden einsame Seelen in Gruppengesprächen abgezockt. In der Konsumentensendung «Kassensturz» sind Ärgernisse wie die hohen Gebühren und teure Warteschleifen wiederholt ein Thema. Seitens der Marketingabteilung der Generaldirektion PTT scheut man derweil keinen Aufwand, um die Meinung der Bevölkerung zum Thema Telefonkiosk zu erfahren. Bizarr mutet heute an, dass dafür ein Marktforschungsinstitut beauftragt wird, u.a. 30 minderjährige Teenager beiderlei Geschlechts zu befragen. Die im PTT-Archiv in Köniz erhaltene Studie zeigt, dass viele Jugendliche die einschlägigen Angebote kennen und aus Neugier auch Anrufe getätigt haben. Ein Jugendlicher gibt zu Protokoll, das «geile Telefon» sei «eher für Böcke». Ein anderer Teilnehmer erwähnt eine mitgehörte Geschichte rund um «eine Frau die in einen Töff verliebt ist» und eine junge Frau «äussert den Wunsch nach männlichen Stimmen am Telefon».

Standbild aus einem Beitrag von SpiegelTV: zwei Männer vor einem Aufnahmegerät, im Hintergrund ein Plakat für eine 156er-Nummer
Spiegel-TV widmet den 156er-Nummern in der Schweiz am 24.11.1991 einen Beitrag. Er gibt zynische Einblicke in das neue Geschäftsmodell der PTT. Fernsehen ist noch ein Leitmedium und praktisch jeder Satz hat eine Pointe. Die Perspektive und das adressierte Publikum sind ebenso klar wie das Geschlecht der Entscheidungsträger: Sie sind männlich.

Dem Telefonsex wird nicht nur aus dem heimischen Wohnzimmer oder der Telefonkabine gelauscht. Amüsiert berichtet die Zeitung «Der Bund» am 12. Oktober 1991 unter dem Titel «Telefonsex aus Beamtenstuben verbannt», dass eine Mitarbeiterin in der Telefonzentrale der Berner Kantonsverwaltung «bis zu zwanzig Sexbekenntnisse ab Tonband pro Stunde» mitbekam. Mit der Sperrung der 156er-Nummern reagiert der Kanton Bern schnell. Länger dauert es bei der Schweizer Armee. Dort entsteht 1992-1993 ein «Riesenloch im Spesenbudget», wie wiederum «der Bund» berichtet. In Wiederholungskursen oder auf der Wache schlagen Soldaten – die Gefahr aus dem Osten ist abhanden gekommen – mit Telefonsex die Zeit tot. 1994 muss der Bundesrat 1,5 Millionen Franken bewilligen, um das Spesenbudget wieder ins Lot zu bringen.

Kontaktangst als Treiber?

Ein Blick auf die schweizerische Aids-Statistik könnte einen Teil des Erfolgs der 156er-Nummern erklären. 1991-1994 erreichen die Antsteckungen mit 600 bis 700 Fällen pro Jahr ihren traurigen Höhepunkt. 1991 erscheint das Comic «Jo» des Schweizer Zeichners Derib. Die sehr realistischen Zeichnungen zeigen schonungslos das Schicksal von Aids-Kranken und prägen eine ganze Generation von Jugendlichen. Zudem stirbt im November der Queen-Sänger und Popstar Freddie Mercury an HIV. Sex ohne Körperkontakt passt in den von Ansteckungsangst geprägten Zeitgeist. Eine Studie aus Deutschland kann allerdings den Zusammenhang zwischen Aids und dem Erfolg von Telefonsex nicht belegen. Wie die Wochenzeitung «Die Zeit» 1994 unter dem Titel «Gesang der Sirenen» berichtet, lässt sich der neue Medientrend eher unter «Telephonsex für den kleinen sexuellen Hunger zwischendurch» zusammenfassen. Diese Konnotation findet auch Niederschlag in der Schweizer Musikgeschichte. Der Code «156» findet sich gleich in zwei Titeln! Die «Steve Whitney Band» besingt zusammen mit Polo Hofer 1992 eine «156 Sexy Sue» (Link zum Video). Das Cover der Maxi-CD ist im Stil von 156er Inseraten gestaltet, wie sie z.B. in der Boulevardzeitung «Blick» zu finden sind. Zwei Jahre später rappt in Lausanne Sens Unik mit «Le 156» über das «numéro du vice» – über die «Nummer des Lasters». Wobei in der Westschweiz die Telefonsex-Angebote unter dem lautmalerischen Begriff «téléphone rose» zusammengefasst werden. Patin standen hier wohl die bereits erwähnten «messageries roses» aus Frankreich.

Auf dem Album «Chronomatik» veröffentlicht Sens Unik 1994 den Song «Le 156 rade» und rappt dort über die «Nummer des Lasters».

Kaum Spuren finden sich zu den Frauen und Männern, die mit Sexarbeit am Telefon ihr Geld verdienen. Ehemalige Mitarbeiter:innen der «Translite Commerce AG» klagen im Spiegel TV über ausstehende Löhne und Ausnutzung. Abkassiert haben hier andere. Das Bieler Tagblatt hingegen portraitiert 1994 die Studentin Anna, die dank «anonymen Akustiksex» ein «finanziell sorgenfreies Leben» führt. Die junge Frau fühlt sich am Live-Telefon oft wie eine «Mischung zwischen Pfarrer Sieber und Tante Martha». Pfarrer Ernst Sieber leitet zu diesem Zeitpunkt ein Sozialwerk und Marta Emmenegger ist die erste Sex- und Partnerschaftsberaterin beim «Blick». Sprich: Viele Telefonate drehten sich nicht nur um Sex, sondern einsame Menschen finden via 156er-Nummer eine bezahlte Gesprächspartnerin. Als Prostitution möchte die Frau die Arbeit nicht verstanden haben – «körperlich läuft da nix». Es sei doch besser, wenn Männer am Telefon sexuelle Fantasien ausleben. «In Anbetracht der Aids-Ansteckungsgefahr ringt sie ihrem Job «sogar eine familienerhaltende Funktion ab». Anna legt wert darauf, dass ihr Service auch ab und an von Frauen beansprucht wird. Besonders divers sind die 156er-Nummern der frühen 1990er Jahre aber nicht. Im «Blick» werben die Anbieter täglich. Das Gros der Anzeigen soll heterosexuelle Männer triggern, als zweite klare Zielgruppe sind homosexuelle Männer auszumachen.

Ein Ausschnitt auf eine Zeitungsseite mit zahlreichen Telefonsexangeboten über die 156er-Nummern. - vergrösserte Ansicht
Das Verlagshaus Ringier dürfte an den Telefonsex-Inseraten gut mitverdient haben. Meist finden sich die Inserate im «Blick» gleich vor dem Fernsehprogramm. Quelle: Inserate im Blick vom 25.01.1992 und vom 05.06.1992.

Das Telefon als emotionales Medium

Schon lange vor der Kommerzialisierung von Telefonsex gibt es Hinweise darauf, dass die Kulturtechnik des Telefonierens auch sinnliche bis erotische Komponenten haben kann. Ein Zitat aus Kafkas «Das Schloss» bezieht sich oberflächlich auf den Summton – was aber meint der Literat 1922 mit «wie wenn sich aus diesem Summen […] eine einzige hohe, aber starke Stimme bilde, die an das Ohr schlug, so wie wenn sie fordere, tiefer einzudringen als in das armselige Gehör»? Im Jahr 1935 rapportiert die Zeitschrift «Technische Mitteilungen T.T.» den Leser:innen Kundenfeedbacks zum Telefondienst. Viele Telefongespräche werden zu diesem Zeitpunkt noch von Telefonistinnen vermittelt. Eine Rückmeldung lobt die Frauen am Apparat: «Ihre freundliche Stimme bringt, ohne dass sie es ahnt, in manche Gewitterschwüle des Bureaus oder sonstigen Alltags sonnige Aufhellung». Und ein dichterisch veranlagter Teilnehmer reimt:

«Bin ich auch manchmal sehr bedrückt,
So bleibt doch was, das mich beglückt:
Ein Griff nur nach dem Telephon,
Und «Nummer bitte?» tönt es schon!
Die Antwort dünkt mich Sonn’ im März,
Wirkt lindernd auf mein krankes Herz.
Drum lass ich gerne mich verbinden,
Es dient zu meinem Wohlbefinden!»

Bei beiden Zitaten mag mitschwingen, dass die «Fräuleins vom Amt» meist unverheiratet sind und dass kurze Flirts am Telefon seitens der Telefonkunden gerne praktiziert werden. Darauf weist etwa ein Titel eines Dokumentarfilms zu sprechenden Computern aus dem Jahr 1980 hin: «Kein Flirt mehr mit dem Fräulein vom Amt». Dabei gingen die Avancen nicht immer von den Männern aus.  In einem vom PTT-Archiv in Köniz durchgeführten Oral History Interview erinnert sich eine Telefonistin, die in den 1940er Jahren im Fernamt Bern und im Bundeshaus arbeitet, an eine amüsante Geschichte. Beim Posthalter im Landamt Eggiwil im Emmental verlangen die Telefonistinnen gerne eine Verbindung. «Und der hatte so eine sexy Stimme und [kurze Pause] die meisten waren so ein wenig verliebt in die Stimme. Und eine der Kolleginnen ist einmal in der Freizeit auf dieses Eggiwil [gegangen], und ging ihn besuchen. Und die sexy Stimme, das war ein älterer, weisshaariger Herr, mit einem geringelten Schnauz, und [lacht] sie hat ihn sich – also wir alle haben ihn uns natürlich anders vorgestellt.» In diversen Spielfimen wird das affektiv-gefühlsbetonte Band zwischen Telefonierenden zelebriert – und auch «Callboys» und «Callgirls» werden via Telefon kontaktiert. Stimme und Intonation kommen bei Telefonaten im Film intime Qualitäten zu. In «L'Homme qui aimait les femmes» von François Truffaut aus dem Jahr 1977 verabredet sich der Protagonist mit einer Angestellten eines Weck-Services, ihre Stimme hat ihn neugierig gemacht. Und bereits 1946 verliebt sich in «A Matter of Life And Death» eine Frau in die Stimme eines todgeweihten Soldaten in einem abstürzenden Flugzeug. Kommunikationsmittel ist hier allerdings ein Funkgerät und kein Telefon.

Auf dem Sepia-Foto ist eine knapp bekleidete Frau zu sehen, die auf einem Bett liegt - in der einen Hand den Telefonhörer in der anderen eine Zigarette im Zigarettenhalter. - vergrösserte Ansicht
«Callgirl» am Telefon. Klischee-Filmstill aus dem Pro Telephon-Werbefilm «Auf Draht und Welle» aus dem Jahr 1974. Quelle: Museum für Kommunikation, Frau am Telefon, Condor Films AG (Fotograf), PRO_30737.

Die PTT auf der Anklagebank

Doch zurück zu den 156er Nummern und zur PTT. Bereits der Titel der TV-Sendung «Zischtigsclub» vom 05.11.1991 lässt für die PTT Ungemach erwarten. Diskutiert wird unter dem Titel «Plausch, Ersatzbefriedigung oder Unzucht?». «Unzucht» findet sich als Begriff damals noch im Sexualstrafrecht und befeuert den christliche Eifer – Sittenwächter:innen werden bei Staatsanwaltschaften und Polizei aktiv. In der Waadt wählt sich bereits seit Oktober 1991 ein Polizeiinspektor auf Anordnung des Untersuchungsrichters regelmässig ins «téléphone rose» ein und hört bis 1993 über 300 Telefonlinien ab. Im Oktober 1993 beginnt im Lausanner Bezirksgericht der Prozess – auf der Anklagebank sitzt PTT-Generaldirektor Felix Rosenberg. Der Thurgauer Jurist und CVP-Mann stammt aus traditionellem katholischem Hause. Betreffend Telefonsex erklärt er 1991 auf Spiegel TV: «Dass wir den Auftrag haben von der PTT die Schläuche zu legen, aber für die Jauche […] sind wir nicht zuständig». Dies sieht man in Lausanne allerdings anders. Konkret finden laut Bund vom 21.10.1993 «eine Sexgeschichte unter Einbezug von Schweinen» und ein «roher und vulgärer sexueller Dialog», der von einem Kind am Telefon mitangehört wurde, den Weg zum Richter. Rosenberg wird für schuldig befunden und in erster Instanz zu 2 Monaten Gefängnis bedingt und einer Geldstrafe von 20'000 Franken verurteilt. Der «Neue Rütlibund – Schweizerische Vereinigung für christliche Moral, Menschenwürde und Familienschutz» gibt nach dem Urteilsspruch ein triumphierendes «Weissbuch» zum Fall heraus. Darin versammelt sind diverse private Anzeigen, Zeitungsberichte und Leserbriefe gegen die PTT. Rütlibund-Mann Eduard Bachmann betätigt sich während der Gerichtsverhandlung sogar als Zeichner und veröffentlicht die Skizzen im Weissbuch. Bildunterschrift: «Der Angeklagte Felix Rosenberg».

Schematische Zeichnungen aus dem Gerichtssaal: Zu sehen sind die offiziellen Personen des Gerichtes und der Angeklagte. - vergrösserte Ansicht
Eduard Bachmann vom christlich gesinnten «Neuen Rütlibund» portraitierte 1993 im Bezirksgericht Lausanne den Angeklagten PTT-Generaldirektor Felix Rosenberg. Quelle: Der Neue Rütlibund (Hg.): Das kleine Weissbuch vom 9. November 1993. Die Bestrafung der PTT wegen Tel.Sex 156…, Zug 1992, S. 2.

1995 landet der Fall vor dem Bundesgericht – zentraler Vorwurf ist der vernachlässigte Jugendschutz. Die Sachlage ist kompliziert, zumal 1992 das Sexualstrafrecht revidiert und teilweise entschärft wird. Das Bundesgericht entscheidet schliesslich, dass nur aufgezeichnetes Pornogeflüster strafbar sei und dass Telefondialoge mit sexuellem Inhalt – selbst wenn Kinder zuhören – nicht strafbar sind. Felix Rosenberg wird wegen Gehilfenschaft zu unzüchtiger Veröffentlichung und Verbreitung von Pornografie schuldig gesprochen, das erstinstanzlich verhängte Strafmass wird aber reduziert. 1996 muss die Telecom PTT dem Kanton Waadt zudem 150'000 Franken zahlen. Dies dürfte die Telefonrechnung des fleissigen «téléphone rose»-Polizeiinspektors aus Lausanne gedeckt haben.

Standbild einer Diskussionsrund zu 156er-Nummern im Studio von SRF von 1991.
In der TV-Sendung «Zischtigsclub» vom 05.11.1991 werden diverse Aspekte des Themas Telefonsex ausführlich diskutiert.

Ein Abschied auf Raten

Eingedeckt mit Klagen und Gerichtsverfahren führt die PTT im November 1993 für die 156er-Nummern ein Jugendschutz-System ein und schliesst so juristisch die Gehilfenschaft aus. Fortan kann am Kiosk nach dem Vorzeigen des Ausweises ein persönlicher «Super-Pin-Code» bezogen werden. Mit diesem Passwort muss man sich am Telefon identifizieren, bevor Inhalte für Erwachsene beansprucht werden können. Sprich: Telefonsex wird kompliziert und weniger anonym. Wie bei der Ausleihe in der Videothek – der Pornobereich wird gerne durch einen Vorhang abgeschirmt – oder beim Kauf von reichbebilderter Erwachsenenlektüre am Kiosk, erfordert der Zugang zum «Laster» neu den Gang an die Öffentlichkeit. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen aufs Geschäft.

Bereits bis Ende Januar 1994 geben 227 kleine Anbieter auf. Offenbar rechnet sich für sie die technische Investition in den Jugendschutz von 3000 Franken nicht. Übrig bleiben etwa 500 Nummern von grösseren Anbietern. Den Höhepunkt hat die Telefonsex-Ära demnach zwischen 1991 und 1993 erreicht. In einer Broschüre der Telecom PTT aus dem Jahr 1996 preist der Monopolist weiterhin den 156-Telekiosk als gutes Geschäft an. Wörter wie «Sex» oder «Erotik» werden tunlichst vermieden. Lieber werden Euphemismen bemüht: 156er-Nummern seien offen für «Plaudereien», «Geschichten», «Gesundheit» oder «Sport» – tönt so harmlos wie die Tonspuren der damals noch verbreiteten Märchentelefone für Kinder in der Bankfiliale. Noch Ende der 1990er Jahren finden sich eine beachtliche Zahl an 156er-Sexinseraten in den Zeitungen. Mit dem Aufkommen des Internets um das Jahr 2000 verkommt Telefonsex zu einem Nischenprodukt, das sich mit den 0900-Nummern allerdings bis in die Gegenwart halten kann. Und sonst – was bleibt? Etwas Schmuddel-Nostalgie? In Boltigen im Berner Oberland wird um 2007 eine Kletterroute mit dem Namen «Telefonsex» eingebohrt und auf Netflix läuft momentan mit «Dirty Lines» eine niederländische Serie, die sich den Anfängen des Telefonsex in Holland widmet.

PS: In den Sammlungen des Museums für Kommunikation hat der Telefonkiosk bisher kaum Spuren hinterlassen. Ist jemand noch in Besitz von 156-Tonbändern oder -Kassetten aus den frühen 1990er Jahren? Oder haben Sie sogar selbst in dieser Branche gearbeitet? Wir sind an Gesprächen mit Zeitzeug:innen interessiert. Bitte melden bei: communication(at)mfk.ch

Ein Ausschnitt aus einer Broschüre erläutert die Vorteile des Telefonkiosks 156. Aufgelistet sind viele unverfängliche Anwendungen wie Wetter, Witze und Plaudereien. - vergrösserte Ansicht
Die Werbebroschüre der Telecom PTT aus dem Jahr 1996 preist den 156-Telekiosk als gutes Geschäft an. Wörter wie «Sex» oder «Erotik» werden tunlichst vermieden. Lieber werden Euphemismen bemüht: 156er-Nummern seien offen für «Plaudereien», «Geschichten», «Gesundheit» oder «Sport». Quelle: PTT-Archiv P 239-31d-1996, Telecom PTT (Hg.), Telebusiness 157 / Telefonkiosk 156, Bern 1996.

Autor

Dr. phil. Juri Jaquemet, Sammlungskurator für Informations- und Kommunikationstechnologie, Museum für Kommunikation, Bern

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