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Am Gängelband des Smartphones

Gefühlt haben wir über das Smartphone in der Hosentasche Zugang zur ganzen Welt. Das hat viele praktische Vorteile – in den letzten Jahren zeichnen sich aber zunehmend auch negative Seiten der digitalen Alleskönner ab. Zeit für einen Exkurs zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Handys. 

Erinnern Sie sich an Dürrenmatts Kurzgeschichte «Der Tunnel»? Der namenlose Protagonist rast mit dem Zug im dunklen Tunnel dem Nichts entgegen. Dieser Zugreisende erinnert an einen Pendler der Gegenwart: «Ein Vierundzwanzigjähriger, fett, damit das Schreckliche hinter den Kulissen, welches er sah (das war seine Fähigkeit, vielleicht seine einzige), nicht allzu nah an ihn herankomme, der es liebte die Löcher in seinem Fleisch, da doch gerade durch sie das Ungeheuerliche hereinströmen konnte, zu verstopfen, derart, dass er Zigarren rauchte […] und über seiner Brille eine zweite trug, eine Sonnenbrille, und in den Ohren Wattebüschel…». 2023 würden in seinen Ohren kabellose Kopfhörer mit Rauschunterdrückung stecken und das Geschehen auf den Smartphone-Bildschirm würde eine noch bessere Abschottung garantieren als der Rauch einer Zigarre. Eine Zugreise ohne Smartphone-Nutzung ist für viele schon fast undenkbar.

Vom Natel zum Smartphone

1978 wird es in der Schweiz, möglich, mobil zu telefonieren. Die ersten Natels (Nationales Autotelefon - mehr dazu lesen Sie in diesem Blog-Beitrag) sind in einem tragbaren Koffer untergebracht und kosten um die 10 000 Franken. Bis in die 1990er-Jahre bleiben Mobiltelefone teure Statussymbole und werden von Berufstätigen, die viel unterwegs sind, eingesetzt. Tierärztinnen, Architekten oder Managerinnen lernen, die mobile Erreichbarkeit zu schätzen. Das 1992 lancierte digitale Natel D beruht auf dem europäischen GSM-System. Die Geräte werden nun schnell billiger und passen in die Hosentasche. Zum Erfolg trägt ab 1995 auch die Einführung der SMS-Technologie bei. Die 160 Zeichen der Kurznachricht ersetzen immer öfter ein Mobiltelefongespräch. Die Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes Ende der 1990er-Jahre führt zu billigeren Abos. 2002 zählt die Statistik für die Schweiz erstmals mehr Mobil- als Festnetzanschlüsse. Das «Handy» ist jetzt ein Alltagsgegenstand und für Erwachsene schon fast ein Muss. 2007 stellt Apple das iPhone vor – innerhalb von wenigen Jahren setzen sich Smartphones mit Touchscreen durch. Diese machen in erster Linie das Internet mobil zugänglich. Dank individuell auswählbaren Apps und seiner kompakten Form ist ein Smartphone oft praktischer als Computer und Laptop. Telefon, Internet-Browser, Mail, Anschluss an soziale Netzwerke, Walkman, Warenhaus, Fahrplan und Billettschalter, Fotoapparat, Ausweis, Bank, Agenda, Textübersetzer, Taschenlampe und Kompass sind in einem Gerät vereint. Ein Alltag ohne Smartphone ist 2023 kaum noch denkbar.

Objektfoto eines iPhone1 mit Verpackungsschachtel vor weissem Hintergrund. - vergrösserte Ansicht
Apple iPhone der ersten Generation aus dem Jahr 2007. Dieses von Steve Jobs vorgestellten Mobiltelefon gilt als eine Art Prototyp für heutige Smartphones. Museum für Kommunikation, IKT_00043.

Das Beherrschen der virtuosen Wischbewegungen auf dem Touchscreen ist zu einer Kulturtechnik avanciert. Apps machen Smartphonebesitzerinnen und -besitzer zu den besten Mitarbeitenden von Banken, Krankenkassen und Versicherungen. Was früher «Papierkram» am Schalter war, erledigen wir heute mit ein paar Wischern selbst. Sterne und Bewertungen der Online-Kundschaft ersetzen die Staubsauger-Beratung im Geschäft. Der digitale Wandel manifestiert sich auch im Stadt- und Ortsbild: Telefonkabinen sind weitgehend verschwunden, Fachgeschäfte schliessen, Geld- und Billettautomaten werden vielerorts zurückgebaut und mit Menschen besetzte Schalter haben langsam, aber sicher Seltenheitswert.

FOMO und FOBO

Zweifellos haben Smartphones praktischen Nutzen. Sie haben aber auch ein Suchtpotenzial und binden viel unserer kostbaren Zeit. Etwas Selbstreflexion kann da guttun: Wann schaue ich am Morgen erstmals auf den Bildschirm, wann abends zum letzten Mal? Der Umgang mit dem Gerät bietet vielerlei persönliche Herausforderungen! Eine davon haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter dem Kürzel «FOMO» zusammengefasst. Die «Fear of Missing Out» steht für die Angst oder das Gefühl, etwas zu verpassen. Insbesondere die sozialen Medien und Newskanäle verstärken die Angst, nicht mehr auf dem Laufenden zu sein, sodass wir dauernd zum Smartphone greifen und uns durch Posts, Gruppennachrichten, News und lustige Videos kämpfen. Auf Social-Media-Kanälen lässt sich auf diversen Ebenen bis zur Unendlichkeit scrollen. Kommt hinzu, dass die gefühlte Gefahr besteht, selbst Aufmerksamkeit oder Streicheleinheiten in Form von «Likes» zu verpassen. Es gilt, sich online ständig im perfekten Licht zu zeigen. Ein Strandfoto hier, ein kluges Zitat da und sportliche Freizeitbilder anderswo. Ein artverwandtes Delirium ist «FOBO», die «Fear of Better Options». Die Angst vor der besseren Option bezeichnet die Unfähigkeit, eine Entscheidung zu treffen. Hinderungsgrund: Legt man sich auf etwas fest, könnte man ein noch besseres Angebot verpassen. Mit Freunden essen gehen oder folgt doch noch die erhoffte Einladung zur Geburtstagsparty? Den gewünschten Pullover jetzt bestellen oder abwarten, ob der Preis noch sinkt? Die Wahl wird zu Qual – insbesondere, wenn Smartphone und Internet tausend Möglichkeiten offenhalten.

Ein Objekt in Originalverpackung - es ist ein Tennisball, den man auf ein Smartphone montieren kann, damit der Hund in die Kamera schaut. - vergrösserte Ansicht
Was man nicht alles tut für das perfekte Bild auf Social Media! Smartphone Gadget «Pooch Selfie» für gelungene Selfies mit Hunden. Der Lieblingsball des Hundes wird auf die Pooch Selfie-Halterung gesteckt und der Vierbeiner fokussiert automatisch den Ball - respektive die sich darunter befindliche Smartphone-Kamera. Museum für Kommunikation, IKT_00428.
Ein glattpolierter schwarzer Stein mit der Beschriftung "iStone", dahinter eine wollgraue Handyhülle. - vergrösserte Ansicht
«iStone» des Künstlers Horst Bohnet, Smartphone aus reinem Granit, 2014. Werbetext zum iStone: «Im Zeitalter der hektischen, virtuellen Kommunikation sind Ruhe und Zeit der neue Luxus. Der iStone ermöglicht dank permanenter Stummschaltung störungsfreie Kontakte Face to Face. Mit diesem Antiburnout-Gadget bist du voll dabei und unerreichbar…». Museum für Kommunikation, IKT_00198.

Digital Detox

Dank der Funktion «Bildschirmzeit» (iPhones) oder «Digitales Wohlbefinden» (Android-Geräte) lässt sich die eigene Smartphone-Nutzung reflektieren. Aufschlussreich sind dabei die Nutzungszeiten je App. Welche raubt mir täglich nur Minuten, welche Stunden? Es gibt auch den Trend zu «Digital Detox», dem bewussten Verzicht auf digitale Medien für eine gewisse Zeit. Ich unterzog mich in den Sommerferien 2022 unfreiwillig einer radikalen «digitalen Entgiftung»: Im Campingurlaub in Südfrankreich hatte mein Smartphone für kurze Zeit intensiven Kontakt mit Salzwasser. Danach ging nichts mehr – obwohl ich das Gerät für Tage liebevoll in eine Packung Reis legte, um so die Feuchtigkeit herauszubekommen. Startet das Ding endlich wieder?!? Die gefühlt 300 Versuche schlugen fehl. Anfangs war der Entzug heftig und ich entsprechend genervt: Kinderfotos machen – nur mit dem Smartphone meiner Frau möglich! Öffnungszeit nachschauen – leider nein! Online Zeitung lesen – geht auch nicht. Was läuft auf Social Media und in Chatgruppen von Freunden und Bekannten? Keine Ahnung! Nach zwei bis drei Tagen stellte sich aber ein mitunter befreiendes Gefühl ein. Ich bin im Hier und Jetzt präsent oder hänge am Strand Tagträumen nach.

Technologische Revolution

Gehören «FOMO», «FOBO» sowie «Digital Detox» zu den grossen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Gegenwart? Wohl eher nicht! Die Corona-Pandemie, die erneut drohende Präsidentschaft Trumps und Propaganda rund um den Ukraine-Krieg zeigen, dass eher in manipulativer Absicht verbreitete Falschmeldungen und Halbwahrheiten zu einer Bedrohung für demokratische Gesellschaften werden. Bei «Fake News» kommt dem Smartphone eine zentrale Rolle als Brandbeschleuniger zu. In sozialen Netzwerken verbreiten sich auch absurde Inhalte in Echtzeit viral. Für viele Menschen haben diese nur durch Algorithmen gefilterten Meldungen die «vierte Gewalt» (Massenmedien wie Presse und Rundfunk) abgelöst. Kommt hinzu, dass sich das Potenzial von künstlicher Intelligenz klar am Horizont abzeichnet. ChatGPT verfasst Texte und Computer errechnen täuschend echte Fotografien, die niemals mit einer Kamera aufgenommen wurden. Wir müssen als Individuum und Gesellschaft lernen, mit dieser neuen technologischen Revolution umzugehen.

Zeit zurückerobern

Dürrenmatts Protagonisten im nicht endenden «Tunnel» nützt alle Abschottung nichts. Er wird von den Ereignissen im Zug mitgerissen und rast wehrlos und unaufhaltsam auf das Ungewisse zu. Im Umgang mit Smartphone, künstlicher Intelligenz und einer zunehmend digitalisierten Gegenwart bleiben uns mehr Optionen. Es gilt, sich seine Zeit zurückzuerobern. Wie wäre es mit einer mechanischen Armbanduhr? Dort lässt sich die Zeit ablesen, aber wir werden nicht ständig von Nachrichten und Eilmeldungen eingelullt. Der israelische Historiker Yuval Harari rät in der «NZZ am Sonntag» zu viel Flexibilität und meint: «Niemand weiss, wie der Arbeitsmarkt in 20 Jahren aussehen wird. Die Welt verändert sich in immer höherem Tempo. Den Kindern sollten wir deshalb vor allem beibringen, wie man ein Leben lang lernt und sich ständig auf neue Situationen einstellt. Das ist viel wichtiger, als ihnen spezifisches Fachwissen wie Programmieren beizubringen.» Und Rick Rubin, kreativer kalifornischer Musikproduzent-Guru, rät in seinem neuen Selbsthilfe-Buch «kreativ. Die Kunst zu sein» sich spezifisch menschlichen Dingen, hinzuwenden, welche die künstliche Intelligenz noch nicht beherrscht: Intuition, Geduld, Spontanität, Harmonie, Selbstzweifel oder Zuhören. Auch nicht unwichtig: bisweilen Regeln infrage stellen! Rechner befolgen (noch) Regeln, sie zu brechen ist jedoch eine zutiefst menschliche Fähigkeit.

Autor

Juri Jaquemet, Sammlungskurator Informations- und Kommunikationstechnologie, Museum für Kommunikation, Bern

Dieser Text von Juri Jaquemet wurde ursprünglich im Magazin "4 bis 8 - Fachzeitschrift für Kindergarten und Unterstufe" im Dezember 2023 publiziert.

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