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Das Gesetz der grossen Zahl – ‘Rechne immer mal 500'000!’

Das Museum für Kommunikation besitzt eine umfangreiche Fotosammlung zur Geschichte der Kommunikation in der Schweiz. Die Sammlung von rund 500'000 Bildern ist ein wertvolles Zeitzeugnis, aber auch eine immense Herausforderung für das Sammlungsteam, wenn es um die langfristige Erhaltung geht. Natürlich packen wir das an! Mit einem Mammutprojekt erhalten wir diesen Schatz auch für künftige Generationen.

Wer schon einmal in Museumsdepots unterwegs war, kennt das: In den diskret grau-beigen Korridoren, Schränken und Schubladen schlummern die umfangreichen Schätze der Vergangenheit. Und je kleiner die Objekte sind, desto mehr ‘Schätze’ finden Platz in diesen Schatzkammern. So zum Beispiel auch fotografische Objekte. Seit den Anfängen der Geschichte des Museums für Kommunikation vor 120 Jahren sammeln wir auch Fotografie. Wie viele fotografische Objekte wir insgesamt haben, das wussten wir lange gar nicht so genau. Die Erschliessung, Umlagerung und Digitalisierung erfolgte Stück für Stück.

Nachtaufnahme eines gewaltigen Blitzeinschlags in einen Übertragungsturm.
Historische schwarz-weiss-Aufnahme. Ein Mann mit Hut und Mantel steht im Abendlicht vor einer Wand voller Postfächer.
Im Gegenlicht ist das Gestänge des Landessenders Beromünster zu sehen, darin klettert ein winzig kleiner Mensch. Im Hintergrund ist ein zweiter Sendeturm zu sehen.
Ein Telefonmonteur repariert zu oberst an der Telefonstange eine Telefonleitung, im Hintergrund Schneeberge.
Historische Aufnahme eines Briefträgers mit Saumtier in ländlichem Gebiet, im Hintergrund  sind Häuser zu sehen.
Historische Aufnahme von drei frühen Postautos, parkiert vor einem Postgebäude. Das Personal stehen stolz daneben.
Historische Aufnahme einer Postkutsche mit vier Pferden im Galopp. Im Hintergrund der Landstrasse sind Berge zu sehen.
Aus dem Schnee ragt eine Steinpyramide in den Bergen, darauf stehen drei Männer mit nacktem Oberkörper.  Die Rucksäcke der Wanderer liegen daneben im Schnee.
Eine lange Reihe von Männern tragen ein riesiges Kabel, das verlegt werden soll.
Werbeaufnahme einer freundlich lächelnden Frau, die telefoniert.

Meine Konservatorinnen-Kollegin und ich wollen es irgendwann genauer wissen. Denn fotografische Objekte sind sehr empfindlich und altern je nach Material und Umgebung sehr schnell. Es ist unsere Aufgabe ihren Zerfall aufzuhalten oder zumindest zu verlangsamen. Doch wie anfangen bei mehreren hunderttausend Bildern? Wir entscheiden uns für den pragmatischen Weg. Wir gehen in jeden Korridor und öffnen jeden Schrank und jede Schublade und notieren, was wir sehen. Und wir sehen viel Schönes, Interessantes und Skurriles.

Wir sehen aber auch historisches Material auf der Schwelle des Zerfalls. Dieser Zerfall zeigt sich je nach Materialgruppe sehr unterschiedlich: Dias verkleben mit Sichttaschen, vom Glasnegativen bleibt nur noch ein Scherbenpuzzle, chemische Prozesse zersetzen die Bilder oder führen im schlimmsten Fall sogar dazu, dass explosives Gas entsteht. Manchmal ist dieser Zerfall dramatisch sichtbar, aber viel gefährlicher ist der unscheinbare, schleichende Zerfall. Nach dem Sehen beginnen wir also zu rechnen. Wir haben rund 500'000 Einzelobjekte gezählt und auch ohne Taschenrechner ist uns sofort klar, wenn wir diesen Schatz für die Nachwelt erhalten wollen, dann müssen wir neu denken. Dann müssen wir gross denken. Das ist 2019, die Geburtsstunde von ODIL (‘Out of the Dark, Into the Light’), unserem 10-jährigen Grossprojekt zur umfassenden Bearbeitung unserer Fotosammlung.

Schadensbild aus der Fotosammlung - ein Fotonegativ verklebt mit der Sichttasche aus Transparentpapier. - vergrösserte Ansicht
Verflüssigung des Negativs, Verpackung klebt an Objekt, Totalverlust der Bildinformation
Ein Glasnegativ, zerbrochen in mehrere Teile. - vergrösserte Ansicht
Fragmentierter Glasbruch, Lesbarkeit der Bildinformation stark reduziert

Im Projektteam arbeiten drei Kurator:innen, drei Konservator:innen-Restaurator:innen, zwei Spezialist:innen Information & Dokumentation, ein Partizipationsexperte und immer wieder helfende Hände in Form von befristeten Projektmitarbeitenden. Wir bewerten, wir erschliessen, wir lagern um, wir digitalisieren, wir vermitteln, wir halten Ordnung in unseren Daten und bei den Originalobjekten und wir schieben am Ende des Prozesses ein digitales Äquivalent des Objekts ins digitale Langzeitarchiv. Dabei ist es unser Ziel diese Mammut-Aufgabe mit vereinten Kräften zu meistern, interdisziplinär und kooperativ. So müssen wir aber alle auch lieb gewonnene Gewohnheiten aufgeben, unbequeme Diskussionen über den Gartenzaun führen und uns immer wieder kritisch fragen, für wen wir das alles eigentlich tun und welchen Nutzen zieht dieser ominöse ‘Mensch der Zukunft’ überhaupt daraus? Wir verbessern unseren Prozess deshalb laufend, denn jeder unnötige Arbeitsschritt, jeder Umweg, jede Unsicherheit hat einen Einfluss auf das Gesamtprojekt. Auch wenn es nur 5 Minuten sind, weil ‘Rechne immer mal 500'000!’ – dann sind es 41'666 Arbeitsstunden.

Blick in einen Archivschrank mit sehr unterschiedlichen Aufbewahrungsbehältern. - vergrösserte Ansicht
Vorher: Die Bilder warten in unterschiedlichen Behältnissen auf die Erschliessung und Digitalisierung...
Archivschrank mit sauber aufgeräumten Aufbewahrungsboxen. - vergrösserte Ansicht
...nachher: Die Bilder sind sauber in Archivboxen aufbewahrt und archiviert.

Dieses Bewusstsein prägt unseren Arbeitsalltag. Dabei steht nicht die Ökonomisierung der Kultur oder der Museen im Vordergrund, sondern im Prinzip das Gegenteil davon. Wir lernen dadurch Bescheidenheit und lernen einen verantwortungsvollen Umgang mit den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen. Und wir müssen ehrlich sein, nicht alle der 500'000 Einzelobjekte sind ein tatsächlicher Mehrwert für den ‘Menschen der Zukunft’. Deshalb ist die sogfältige und systematische Bewertung und Reduktion der Sammlung ein zentraler Teil von ODIL. Um wieder zum – angepassten – Rechnungsbeispiel zurückzukommen: ‘Rechne immer mal 350'000!’. So werden aus 5 Minuten ‘nur’ noch 29'166 Arbeitsstunden. Das ist ODIL aus der Vogelperspektive, die Projektleiterinnen-Perspektive. Innerhalb vom Kosmos ODIL gibt es aber vor allem unendlich viele, spannende Geschichten. Die eine oder andere dieser Geschichten wollen wir euch in Zukunft gerne hier in diesem Blog erzählen. Ihr hört von uns!

In der nächtlichen Winterlandschaft leuchtet eine Telefonkabine, davor stehen ein Mann und eine Frau.
Telefonstangenmontage im Gebirge: Ein Mann steckt kopfüber bis zur Hüfte in einem Loch, sein Kollege hält ihn am Gurt fest.
Auf einer Passstrasse steht ein Auto mit Werkzeug am Boden, eine Frau telefoniert von einer SOS-Säule aus.
Ein Mann mit Laborkittel prüft in einer Werkstatt mit technischen Apparaten ein dickes Telefonkabel.
Junge Frauen beugen sich an einem langen Tisch konzentriert über ihre Lehrbücher.
Eine Gruppe von Männern auf einem schneebedeckten Berggipfel mit Radioequipment.
In einem Wohnzimmer im Stil der 1950er-Jahre sitzt eine gutbürgerliche Familie vor dem Radio.
Auf einem Floss ist eine riesige Kabelrolle montiert. Das Kabel wird von Arbeitern in den See hinabgelassen, im Hintergrund sind auf einem Schiff Zuschauer zu sehen.
Eine ältere Frau mit einem orangen Telefonhörer in der Hand lacht in die Kamera.
Historische Aufnahme einer Winterlandschaft, im Vordergrund drei Kinder mit Schlitten.

Hinweis: Ausstellung "Ins Licht"

Das Museum für Kommunikation macht seine Fotosammlung und das Projekt ODIL auch in der Ausstellung sichtbar. Ab dem 8. Juli 2022 werden rund 70 Originalbilder aus der Sammlung in der permanenten Ausstellung zu sehen sein. Um die Originale zu schützen, werden später andere Bilder gezeigt. Die Ausstellung ermöglicht so einen immer neuen Einblick in die Fotosammlung des Hauses. Neben dem umfassenden digitalen Zugang eine Ergänzung, die auch dem Charme des Originals gerecht wird.

Autorin

Martha Mundschin, Konservatorin-Restauratorin Papier, Foto & AV-Medien, Museum für Kommunikation

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