Das Gesetz der grossen Zahl – ‘Rechne immer mal 500'000!’
Das Museum für Kommunikation besitzt eine umfangreiche Fotosammlung zur Geschichte der Kommunikation in der Schweiz. Die Sammlung von rund 500'000 Bildern ist ein wertvolles Zeitzeugnis, aber auch eine immense Herausforderung für das Sammlungsteam, wenn es um die langfristige Erhaltung geht. Natürlich packen wir das an! Mit einem Mammutprojekt erhalten wir diesen Schatz auch für künftige Generationen.
Wer schon einmal in Museumsdepots unterwegs war, kennt das: In den diskret grau-beigen Korridoren, Schränken und Schubladen schlummern die umfangreichen Schätze der Vergangenheit. Und je kleiner die Objekte sind, desto mehr ‘Schätze’ finden Platz in diesen Schatzkammern. So zum Beispiel auch fotografische Objekte. Seit den Anfängen der Geschichte des Museums für Kommunikation vor 120 Jahren sammeln wir auch Fotografie. Wie viele fotografische Objekte wir insgesamt haben, das wussten wir lange gar nicht so genau. Die Erschliessung, Umlagerung und Digitalisierung erfolgte Stück für Stück.
Meine Konservatorinnen-Kollegin und ich wollen es irgendwann genauer wissen. Denn fotografische Objekte sind sehr empfindlich und altern je nach Material und Umgebung sehr schnell. Es ist unsere Aufgabe ihren Zerfall aufzuhalten oder zumindest zu verlangsamen. Doch wie anfangen bei mehreren hunderttausend Bildern? Wir entscheiden uns für den pragmatischen Weg. Wir gehen in jeden Korridor und öffnen jeden Schrank und jede Schublade und notieren, was wir sehen. Und wir sehen viel Schönes, Interessantes und Skurriles.
Wir sehen aber auch historisches Material auf der Schwelle des Zerfalls. Dieser Zerfall zeigt sich je nach Materialgruppe sehr unterschiedlich: Dias verkleben mit Sichttaschen, vom Glasnegativen bleibt nur noch ein Scherbenpuzzle, chemische Prozesse zersetzen die Bilder oder führen im schlimmsten Fall sogar dazu, dass explosives Gas entsteht. Manchmal ist dieser Zerfall dramatisch sichtbar, aber viel gefährlicher ist der unscheinbare, schleichende Zerfall. Nach dem Sehen beginnen wir also zu rechnen. Wir haben rund 500'000 Einzelobjekte gezählt und auch ohne Taschenrechner ist uns sofort klar, wenn wir diesen Schatz für die Nachwelt erhalten wollen, dann müssen wir neu denken. Dann müssen wir gross denken. Das ist 2019, die Geburtsstunde von ODIL (‘Out of the Dark, Into the Light’), unserem 10-jährigen Grossprojekt zur umfassenden Bearbeitung unserer Fotosammlung.
Im Projektteam arbeiten drei Kurator:innen, drei Konservator:innen-Restaurator:innen, zwei Spezialist:innen Information & Dokumentation, ein Partizipationsexperte und immer wieder helfende Hände in Form von befristeten Projektmitarbeitenden. Wir bewerten, wir erschliessen, wir lagern um, wir digitalisieren, wir vermitteln, wir halten Ordnung in unseren Daten und bei den Originalobjekten und wir schieben am Ende des Prozesses ein digitales Äquivalent des Objekts ins digitale Langzeitarchiv. Dabei ist es unser Ziel diese Mammut-Aufgabe mit vereinten Kräften zu meistern, interdisziplinär und kooperativ. So müssen wir aber alle auch lieb gewonnene Gewohnheiten aufgeben, unbequeme Diskussionen über den Gartenzaun führen und uns immer wieder kritisch fragen, für wen wir das alles eigentlich tun und welchen Nutzen zieht dieser ominöse ‘Mensch der Zukunft’ überhaupt daraus? Wir verbessern unseren Prozess deshalb laufend, denn jeder unnötige Arbeitsschritt, jeder Umweg, jede Unsicherheit hat einen Einfluss auf das Gesamtprojekt. Auch wenn es nur 5 Minuten sind, weil ‘Rechne immer mal 500'000!’ – dann sind es 41'666 Arbeitsstunden.
Dieses Bewusstsein prägt unseren Arbeitsalltag. Dabei steht nicht die Ökonomisierung der Kultur oder der Museen im Vordergrund, sondern im Prinzip das Gegenteil davon. Wir lernen dadurch Bescheidenheit und lernen einen verantwortungsvollen Umgang mit den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen. Und wir müssen ehrlich sein, nicht alle der 500'000 Einzelobjekte sind ein tatsächlicher Mehrwert für den ‘Menschen der Zukunft’. Deshalb ist die sogfältige und systematische Bewertung und Reduktion der Sammlung ein zentraler Teil von ODIL. Um wieder zum – angepassten – Rechnungsbeispiel zurückzukommen: ‘Rechne immer mal 350'000!’. So werden aus 5 Minuten ‘nur’ noch 29'166 Arbeitsstunden. Das ist ODIL aus der Vogelperspektive, die Projektleiterinnen-Perspektive. Innerhalb vom Kosmos ODIL gibt es aber vor allem unendlich viele, spannende Geschichten. Die eine oder andere dieser Geschichten wollen wir euch in Zukunft gerne hier in diesem Blog erzählen. Ihr hört von uns!
Hinweis: Ausstellung "Ins Licht"
Das Museum für Kommunikation macht seine Fotosammlung und das Projekt ODIL auch in der Ausstellung sichtbar. Ab dem 8. Juli 2022 werden rund 70 Originalbilder aus der Sammlung in der permanenten Ausstellung zu sehen sein. Um die Originale zu schützen, werden später andere Bilder gezeigt. Die Ausstellung ermöglicht so einen immer neuen Einblick in die Fotosammlung des Hauses. Neben dem umfassenden digitalen Zugang eine Ergänzung, die auch dem Charme des Originals gerecht wird.
Autorin
Martha Mundschin, Konservatorin-Restauratorin Papier, Foto & AV-Medien, Museum für Kommunikation