Diversität in der Archiv- und Sammlungsarbeit: ein langer Weg aus der Komfortzone
Seit 2022 setzen sich das Museum für Kommunikation und das PTT-Archiv intensiver mit Diversität auseinander. Mehr als nur Zeitgeist? Auf jeden Fall! Denn Gedächtnisinstitutionen formen die Selbstbilder einer Gesellschaft mit. Gleichzeitig schliessen sie viele Erfahrungen aus. Wenn sie für möglichst viele Menschen relevant sein wollen, braucht es also neue Zugänge, Perspektiven und Fähigkeiten. Jonas Bürgi schreibt über seine Sicht auf einen langen Weg, der vor den beiden Gedächtnisinstitutionen liegt.
Wir vom Sammlungsteam haben mal nachgezählt: 25 Objekte wurden dem Museum im Jahr 2021 für die Sammlung zur Informations- und Kommunikationstechnologie geschenkt – nur drei davon stammen nicht von Männern. Warum ist das so? Einfache Erklärungen wären schnell gefunden: Technik war nun mal eine Männerdomäne. Naheliegend also, dass vor allem ältere Männer Objekte aus ihrem einstigen Berufsleben dem Museum schenken.
Aber die Geschlechtergeschichte hat gezeigt: Auch wenn Frauen und queere Personen in historischen Quellen und Sammlungen weniger dokumentiert sind, heisst das nicht, dass sie in einstigen Gesellschaften keine Rolle spielten. Wenn wir also ein weniger einseitiges Bild von der Vergangenheit zeichnen wollen, müssen wir auch andere Fragen stellen als bisher. Und das betrifft bei Weitem nicht nur den Aspekt Gender, sondern auch Ebenen wie Migrationserfahrung, das Mitdenken von Menschen mit Behinderung oder neue Perspektiven auf globale Beziehungen.
Das Museum für Kommunikation und das PTT-Archiv haben 2022 eine Diversitätsstrategie formuliert. Seither arbeiten wir an der Umsetzung dieser Vision. Die Frage der Diversität betrifft dabei das Publikum und die Mitarbeitenden, aber auch die Inhalte und Methoden: Welche Geschichten erzählen wir als Museum und als Archiv? Wer kommt darin vor, wer bleibt ausgeschlossen? Und welche Wege gibt es, um das zu ändern?
In der Strategie ist festgehalten, dass Diversität nicht nur bedeutet, die Vielfalt von Menschen und Lebensformen anzuerkennen und wertzuschätzen. Diversität bedeutet ebenso, Machtbeziehungen zu hinterfragen und darüber nachzudenken, was und wer in diesen Beziehungen entweder als «normal» definiert oder eben als «anders» markiert und ausgeschlossen wird – und wer dabei definiert, markiert, ein- und ausschliesst. Diversität wirft also auch die Frage auf: Wer sind eigentlich wir – als Institution und als Mitarbeitende?
Welche Positionen haben wir als Museum und Archiv in der diversen Gesellschaft? Am internen Weiterbildungstag 2022 zu Diversität zeigte sich: In manchen Aspekten sind unsere Teams relativ divers, in anderen kaum. Hier in einem Workshop zur Schichtfrage mit Senad Gafuri und LaNefera. September 2022. Urheber: Museum für Kommunikation.
Denn Museen und Archive sind in diesen Machtbeziehungen keine externen, neutralen Instanzen. Sie galten zwar lange als Orte des objektiven, gesicherten Wissens. Seit einiger Zeit wird dies jedoch hinterfragt. Nicht, weil in diesen Institutionen bewusst getäuscht wird – Archive und Museen sind der Wissenschaftlichkeit und Wahrheit verpflichtet. Aber das Wissen, das in Museen und Archiven überliefert, produziert und vermittelt wird, ist eben nicht universell. Die Personen, die es erarbeitet haben, taten und tun dies geprägt von ihrer subjektiven Weltsicht, von gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen. Vereinfacht gesagt war es lange Zeit (und in vielerlei Hinsicht bis heute) das Wissen des weissen, heterosexuellen, bildungsbürgerlich und eurozentrisch geprägten Mannes.
Also mehr oder weniger genau mein Profil. Warum erwähne ich das? Weil es genau diese Selbstreflexion braucht, wenn es um Diversität geht. Auch wenn in unserem Museums- und Archivteam viele Erfahrungen fehlen, sprechen wir von verschiedenen Positionen aus über Diversität. Für die Institutionen kann ich zudem nur bedingt sprechen, denn gefühlt haben wir mit unseren Gesprächen über Diversität gerade erst begonnen. Ich schreibe diesen Text also aus meiner eigenen Perspektive: aus einer privilegierten Position und gleichzeitig aus meiner persönlichen Haltung heraus, dass ich mich für Teilhabe und gegen Ausschlüsse in der Gesellschaft einsetzen will.
Seit ich 2016 meine Masterarbeit über das Sammeln in einer schon lange von Migration geprägten Gesellschaft geschrieben habe, setze ich mich intensiv mit Fragen der Diversität in Museen und in der Erinnerungskultur auseinander. Im Museum für Kommunikation bin ich zuständig für Partizipation in der Sammlungsarbeit. Für mich gehört beides zusammen: Wenn es bei Partizipation nicht bloss um ein «Mitmachen», sondern um Teilhabe – oder Teilnahme – gehen soll, muss in den Blick genommen werden, was in den Sammlungen bisher unsichtbar war und wer weshalb ausgeschlossen blieb.
Diese Reflexion hat für die Archiv- und Sammlungsarbeit eine besondere Relevanz: Was gesammelt und archiviert wird, beruht notwendigerweise auf Auswahlprozessen und damit auf Ein- und Ausschlüssen. Was erachteten die Verantwortlichen früher als relevant und was liessen sie weg? Diese Entscheidungen hatten auch mit ihren eigenen sozialen Hintergründen, ihren Geschichtsbildern und teilweise schlicht mit persönlichen Vorlieben zu tun. Gleichzeitig wurden viele Erfahrungen und Erinnerungen gerade dadurch ausgeschlossen, dass das Archivieren und Sammeln im Verlauf der Zeit stärker systematisiert wurde. Denn auch die entsprechenden Prinzipien und Relevanzkriterien haben die Gedächtnisinstitutionen vor dem Hintergrund bestimmter Interessen und gesellschaftlich geprägter Vorannahmen festgelegt. Museen und Archive sind deshalb keine neutralen «Speicher» von Geschichte und «Kulturerbe», sondern in ihnen wird «Kulturerbe» gemacht, man könnte auch sagen: konstruiert. So bilden sich in ihnen auch Werte, Wissensordnungen und Machtverhältnisse von einst und heute ab.
Manches wird in den Beständen des Museums für Kommunikation und des PTT-Archivs deutlich sichtbar, wie etwa die nach dem Geschlecht organisierte Berufswelt im Titelbild aus einer Telefonzentrale der 1960er Jahre. Genauso interessant ist, was nicht gesammelt und archiviert wurde. Die Fotosammlung etwa zeigt zwar viel Schweizer Alltagsgeschichte, aber die Lebensrealitäten von Migrant:innen, die die Nachkriegs-Schweiz mitaufgebaut haben, kommen darin nur am Rand vor. Das hat unter anderem damit zu tun, dass Personen ohne Schweizer Bürgerrecht lange Zeit von einer beruflichen Laufbahn bei der PTT ausgeschlossen waren.
Es gibt aber auch Themen, die in der Sammlung latent vorhanden sind, aber bis vor Kurzem vom Archiv und vom Museum nicht als solche erkannt wurden. So verweisen verschiedene Objekte, Fotos und Archivalien auf die schon lange existierenden globalen und kolonialen Beziehungen der Schweiz, auf die Geschichte und Gegenwart von Rassismus oder auf die Marginalisierung der sozialen Unterschichten in der Schweiz. Als solche lesbar werden diese Zeugnisse aber erst, wenn wir uns im Museum und Archiv aktiv mit – für uns – neuen Fragen und gesellschaftlichen Themen beschäftigen.
Es gibt also mehrere Handlungsebenen. Wir wollen neue Objekte und Geschichten sammeln sowie neue Perspektiven auf die Objekte und Archivalien entwickeln, die sich schon in unseren Sammlungen befinden. Der Umgang mit diskriminierenden Begriffen und Darstellungen in unserer Datenbank gehört ebenfalls dazu. Oder auch, Grundannahmen und Interpretationen zu hinterfragen, die von Sexismus, Klassismus, Rassismus, Eurozentrismus oder Ableismus geprägt sind. Das alles wirft strukturelle Fragen auf: zum Beispiel, welche Erfahrungen und Wissensbestände in unseren Teams vertreten sind (beziehungsweise fehlen) oder wie unsere Institutionen, etwa durch strukturellen Rassismus, Teile der Gesellschaft ausschliessen. Damit zusammen hängt die zentrale Frage, wie wir dies ändern können.
In der bisherigen Arbeit von Sammlung und Archiv gab es zahlreiche blinde Flecken. Die Frage der Perspektiven, der Leerstellen und der Deutungshoheit spielt deshalb auf dem Onlineportal des PTT-Archivs und der Sammlungen des Museums für Kommunikation eine wichtige Rolle. Nutzende können ihr Wissen, ihre Erinnerungen und ihre Erfahrungen zu den Objekten, den Archivalien und zum Thema Kommunikation einbringen.
Mit dem Tool «MyMuseum» will das Museum die Sammlung partizipativ erweitern. Das PTT-Archiv sammelt in Oral History-Projekten Erinnerungen von Zeitzeug:innen. Solche Methoden haben das Potential, bisher fehlende Perspektiven sichtbar zu machen. Partizipation allein bedeutet aber noch nicht automatisch Diversität: Es braucht dafür ein bewusstes Vorgehen, das verschiedene Formen von Ausschlüssen intersektional – also in ihrem Zusammenwirken – in den Blick nimmt und aktiv angeht. Das beginnt schon bei der Frage, wem die Projekte und die digitale Plattform überhaupt ohne Barrieren zugänglich sind und wer sich dadurch eingeladen fühlt, teilzunehmen. Interaktive digitale Tools alleine sind noch keine Patentlösung für Teilhabe und Diversität.
Für tiefgreifendere Veränderungen braucht es eine engere Zusammenarbeit mit verschiedenen Communities, mit Forschenden und Alltagsexpert:innen zu unterschiedlichen Aspekten von Diversität und Antidiskriminierung. Solche Kollaborationen sollten nicht nur dazu dienen, neue Zielgruppen zu erreichen, sondern müssen nach innen wirken und die Institution verändern: also Inreach statt (nur) Outreach. Denn bei Partizipation und Kollaboration besteht gerade im Zusammenhang mit Diversität und Antidiskriminierung die Gefahr der Instrumentalisierung der Partizipierenden: Partizipation und die Zusammenarbeit mit Externen dürfen nicht zum Alibi werden, um in der Institution selbst nichts verändern zu müssen.
Für all diese Herausforderungen auf dem Weg zu mehr Diversität und Teilhabe brauchen Museen und Archive deshalb auch neue Expertisen, Rollenverständnisse, Stellenprofile und eine Umverteilung von Ressourcen. Sie müssen ihre Themen multiperspektivisch betrachten und ihre Deutungshoheit teilen. Bei der Themensetzung und bei den Entscheiden, wie ein Thema repräsentiert wird, kann nicht nur über die diverse Gesellschaft gesprochen werden, sondern Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen müssen mitreden. Das bedeutet auch: Aushandlungsprozesse, Umgang mit Widerständen und Konflikte.
Diversität ist eine Querschnittsaufgabe, die teamübergreifend bearbeitet werden muss. Wir haben uns im Museum für Kommunikation und im PTT-Archiv auf einen langen Weg begeben, auf dem wir uns kritisch mit uns selbst auseinandersetzen und unsere Komfortzonen verlassen müssen.
Institutionen bestehen aber aus Menschen. Deshalb verschränken sich bei dieser Selbstreflexion das Strukturelle und das Persönliche: Von wo aus spreche, handle und schreibe ich?
Ich habe diesen Text als Vertreter unserer Institutionen und zugleich als weisser Cis-Mann aus der Mittelschicht, ohne Behinderung und mit Schweizer Pass formuliert – also aus einer sehr privilegierten Position. Nun steht mein Name darunter. Die Reflexionen im Text basieren jedoch auf Literatur, aber ebenso auf Überlegungen aus politischen und aktivistischen Kreisen, auf viel Arbeit von Menschen mit weniger Privilegien. Ohne ihren Einsatz würden wir heute in Kulturinstitutionen nicht über Diversität reden. Zudem ist es auch Teil dieses Prozesses zu mehr Diversität, das Wort abzugeben. Deshalb freue ich mich, auf den Plattformen des Museums in Zukunft auch von Personen zu lesen, die über andere Erfahrungen verfügen als unsere Teams.
Autor
Jonas Bürgi, Partizipation Sammlung, Museum für Kommunikation, Bern
Teilen
Dieser Blogpost ist auch auf unserem Onlineportal für Museumssammlung und PTT-Archiv erschienen.