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Ein sterbender Wal am Furkapass

Zwei Wochenenden im August verbringen wir mit einem Planetopia-Pop-up beim Hotel Belvédère am Furkapass. Es ist ein sehr seltsamer Ort, wo Welten aufeinanderprallen und die Kluft zwischen unserem Wissen und unserem Handeln verblüffend klar zu Tage tritt.

EIN IRRITIERENDER ORT
Wir fahren im Postauto die Strasse hoch in Richtung Furkapass. Der Chauffeur nimmt schwungvoll und routiniert Kurve um Kurve, schon befinden wir uns über der Baumgrenze. Links vor dem Fenster die Felsen, die der Rhonegletscher vor Jahrzehnten blankgeschliffen hat. Plötzlich erscheint auf dem Newsbildschirm im Postauto das Gesicht von Greta Thunberg, dazu die Schlagzeile: «Die Menschen nehmen den Klimawandel noch immer nicht ernst.» Gleichzeitig kommen uns auf der Passstrasse in sportlichem Tempo zwei Porsche-Cabrios entgegen, am Steuer mittelalte Männer mit modischer Behaarung und zufriedenem Grinsen im Gesicht. Wir sind perplex.

Was in diesem flüchtigen Augenblick zufällig aufeinandertrifft, ist symptomatisch für die Situation, in der wir Menschen uns befinden – in der sich unser Planet befindet. Wir erleben den Auftakt zu einer ökologischen Katastrophe. Wir wissen Bescheid, die Fakten sind bekannt, seit langem. Die Lage ist besorgniserregend. Und trotzdem verhalten wir uns so, als wäre alles in bester Ordnung. Wir machen einfach weiter wie bisher. Beim Hotel Belvédère, das seit 2015 geschlossen ist, manifestiert sich das dann so: Das Verkehrsaufkommen ist beeindruckend, das Brummen, Brüllen und Röhren der Verbrennungsmotoren reisst nie ab. Der Parkplatz und die Ränder der Passstrasse sind mit Sportwagen, SUVs, Family-Vans, Motorrädern, Trikes vollgestellt. (Zugegeben, vereinzelte Fahrräder sind auch zu sehen.) Die Menschen brettern über den Pass und machen hier Pause. Sie bezahlen am Drehkreuz 9 Franken Eintritt, um den wegschmelzenden Gletscher zu sehen, der unter dem Abdeckvlies ein eher deprimierendes Bild abgibt. Sie erkunden die künstlich ins Eis geschlagene Gletschergrotte und sind beeindruckt. Dann trinken sie einen Kaffee, steigen wieder ins Auto und brausen weiter.

Hotel Belvédère auf dem Furkapass
Eisgrotte-Bazar Rohnegletscher
Strasse vor dem Hotel Belvédère
Gletscherzunge und kleiner Gletschersee
Auto vor Felswand
Strasse auf dem Furkapass

NATUR KONSUMIEREN
1598 strandete an der niederländischen Küste bei Scheveningen ein Wal. Das Ereignis ist in Gemälden und Stichen dokumentiert – auch die zahlreichen Schaulustigen, die sich das schauerliche Kuriosum nicht entgehen liessen und auf dem sterbenden Tier herumkletterten. Diese Bilder kommen in den Sinn, hier oben, beim schmelzenden Rhonegletscher. Die Leute besichtigen ihn wie einen riesigen gestrandeten Wal. Es ist bezeichnend für unseren Umgang mit der Natur. Wir konsumieren sie wie eine Ware, ein Produkt, das uns ganz selbstverständlich zur Verfügung steht. Oft dient sie uns bloss als Kulisse oder als Spielfeld für ein aufregendes Freizeitvergnügen. Der Rhonegletscher wäre auch über Wanderwege erreichbar. Doch um die Strapazen zum Genuss des Naturerlebnisses klein zu halten, bezahlen wir auch gerne Eintritt dafür.

Das Phänomen ist nicht neu. Bereits früher kamen die Menschen auf die Furka, um das «Ewige Eis» des Rhonegletschers zu sehen. 1882 wurde das Hotel Belvédère eröffnet und der Gletschertourismus zum Geschäftsmodell entwickelt. Die Naturbegeisterten fuhren einigermassen bequem mit der Pferdekutsche die Passstrasse hoch, ab 1921 dann mit dem Postauto. Von den Fenstern des Berghotels aus war der Rhonegletscher noch in den 1990er-Jahren gut zu sehen. Doch wo sich vor 30 Jahren das Eis meterhoch türmte, bleiben heute nur Felsen, Geröllhalden und ein See aus milchigem Schmelzwasser. Die Gletscherzunge liegt rund 300 Meter weiter hinten im Talboden, zugedeckt mit weissem Vlies, um den Schmelzvorgang zu verlangsamen.

LUST AUF EINE ZEITREISE?
Hier oben also, an diesem seltsamen Ort, betreiben wir an zwei Wochenenden im August unser Planetopia-Pop-up. Wir sind ausgerüstet mit Diaguckern und Postkarten mit historischen Fotografien aus der Sammlung des Museums. Sie zeigen Postkutschen und Postautos auf der Furkapassstrasse mit den eindrücklichen Eismassen des Gletschers im Hintergrund. Wir bringen die Aufnahmen zurück an den Entstehungsort und bieten den Passfahrer:innen eine Zeitreise in die Vergangenheit an. Die Fotografien lösen Staunen und Begeisterung aus, manchmal auch Irritation und Konsternation. «So mächtig und nah war der Gletscher noch vor 30 Jahren? Unglaublich!»

Wir sind überrascht, wie viele Menschen sich auf ein Gespräch einlassen. Einige zögern zunächst und freuen sich dann doch über die Fotos und den Austausch mit uns. Andere kommen nach dem Besuch der Gletschergrotte nochmals vorbei, um ihre Eindrücke zu schildern und die Gedanken zu teilen, die sie sich in der Zwischenzeit gemacht haben. Einzelne nehmen sich sogar die Zeit, eine unserer Postkarten an die Daheimgebliebenen zu schicken. Obwohl die Leute aus unterschiedlichen Milieus stammen, sind sich die meisten einig: Der Klimawandel ist ein existenzielles Problem und wir alle müssen gemeinsam dagegen vorgehen. Auch die Kommerzialisierung der Natur wird diskutiert. Einige fragen sich, ob es sinnvoll ist, jedes Jahr einen Tunnel in den ohnehin geschwächten Gletscher zu sägen. Gleichzeitig ist eine gewisse Resignation über die herrschende Untätigkeit zu spüren. Die Aussage, dass die kleine Schweiz kaum etwas an der globalen Situation ändern kann, hören wir mehrmals. Während die Jüngeren sehr gut über die Ursachen der Klimakrise informiert sind, wirken Ältere oft etwas ratlos, was sie persönlich dagegen unternehmen können.

WIR BLEIBEN DRAN!
Für uns sind die Begegnungen aufschlussreich und bereichernd. Wir erleben, wie wichtig es ist, einander zuzuhören, aufeinander einzugehen. Das Gespräch auf Augenhöhe und das Interesse am Gegenüber sind zentral, wenn wir Lösungen entwickeln wollen, die mehrheitsfähig sind und von allen mitgetragen werden.

Die beiden Wochenenden bestätigen uns darin, dass wir mit dem Projekt Planetopia – Raum für Weltwandel auf dem richtigen Weg sind. Wir sehen aber auch, dass dieser Weg noch lang ist. Die Aufgabe ist klar: Vom Wissen zum Handeln kommen. So schnell wie möglich. Wir von Planetopia sind motiviert. Wir bleiben dran!

Autor:innen

Leonie Singer, Praktikantin im Projekt Planetopia – Raum für Weltwandel

Ulrich Schenk, Ausstellungskurator und Projektleiter, Museum für Kommunikation, Bern.

Fotos

Diaz Guler und Ulrich Schenk, Museum für Kommunikation, Bern.

Historisches Foto: Robert Spreng, Postauto Saurer Car alpin am Furkapass, ca. 1922, Museum für Kommunikation (GAB_4498).

 

Video

Diaz Guler, Museum für Kommunikation, Bern.

Wettbewerb

Wir sind auf der Suche nach privaten, gerne alten und analogen Fotos zum Thema Postauto. Schick uns Fotos, die deine Familie aus Postautos heraus geschossen hat, an marketing(at)mfk.ch. Und gewinne ein 4-teiliges Postkarten-Set mit historischen Fotos vom Rhonegletscher. 

 

Kommentare (2)

  • Kurt Stadelmann
    Kurt Stadelmann
    am 04.10.2021
    Friedrich Dürrenmatt: Das Rationale am Menschen sind die Einsichten, die er hat. Das Irrationale an ihm ist, daß er nicht danach handelt BEDEUTUNG?
    • Jürg Schiffer
      Jürg Schiffer
      am 12.11.2021
      Vor bald vierzig Jahren gab es eine Doppelpunktsendung über das Waldsterben. Ich verfasste ein Gedicht dafür - es ist heute aktuell.
      Mit freundlichen Grüssen Jürg Schiffer
      Wie viel Auto braucht ein Mensch?
      Hier und dort, da stirbt ein Baum.
      Manchereiner merkt es kaum.
      Noch bestünd’ zum Glück die Wahl
      Zwischen grün und ratzekahl.
      Hier und dort, da keucht ein Kind.
      Mutter eilt zum Arzt geschwind.
      Schlechte Luft, dies ist der Grund,
      Sonst wär’ es noch kerngesund.
      Alle wissen, dass alsbald
      Ganz zu Grunde geht der Wald.
      Doch Du steigst, Du blinder Tor,
      In Dein Auto wie zuvor.
      Mir wird Angst und Bang zu Mut,
      In den Adern stockt das Blut,
      Wenn ich seh’, wie ohn’ Verstand,
      Du zerstörst das Vaterland.
      Dort wo Feld und Wald ist tot
      Bleibt nur elend’ Hungersnot.
      Deine Enkel klagen an:
      Warum hast Du es getan.
      Die Moral von der Geschicht’:
      Autofahren muss man nicht.
      Lass den Karren mal zu haus
      Und probier’ ‘was and’res aus!
      25.11.84/js Doppelpunkt

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