Eine Fotosammlung findet ihren Weg nach Hause
Nach über 60 Jahren kehrt der Bestand Engadin Press mit über 40'000 historischen Fotografien wieder nach Graubünden zurück. Aber was genau bedeutet diese Rückgabe auf nationaler Ebene? Und warum gibt das Museum für Kommunikation Kulturgut heraus?
Die Engadin Press wurde 1902 von Hermann Tanner und seinem Vater Simon Tanner gegründet. Die fotobegeisterte Verleger-Familie dokumentiert Graubünden und die dort lebenden Menschen ab dem späten 19. Jahrhundert – eine Zeit, in welcher der Tourismus aufblüht, viele Bündner:innen noch in sehr einfachen Verhältnissen leben und Autos im Bergkanton noch verboten sind (bis 1925). Der Fotobestand gibt mit tollen Fotografien einen Einblick in Themen wie Tourismus, lokales Brauchtum, Landschaften und Ortsbilder. Auf zahlreichen Porträts werden die dort lebenden Menschen und ihr Alltag einfühlsam dokumentiert. Der Bestand umfasst über 40'000 Fotografien aus einem Zeitraum von 1880 bis 1950.
Rückgabe generiert Mehrwert
In den 1960er Jahren kaufte das Museum für Kommunikation den Bestand der Engadin Press auf und übernahm ihn in die hauseigene Fotosammlung. Hintergrund der Übernahme waren nicht zuletzt zahlreiche Aufnahmen von Postkutschen, Poststellen und frühen Postautos im Engadin. Im Rahmen eines umfassenden Digitalisierungsprojektes (Projekt ODIL) werden seit 2019 sämtliche Fotobestände des Museums für Kommunikation bewertet, erschlossen und digitalisiert. Von den insgesamt über 500'000 Bildern in der Museumssammlung konnten bereits mehr als 150’000 Fotografien durch diesen Prozess digitalisiert werden. Dabei wurden auch zahlreiche weitere Fotografien entdeckt, die vergleichbare Motive wie der Bestand der Engadin Press zeigen.
Auch die Fotostiftung Graubünden besitzt Abzüge und Originale des Engadin Press-Bestands. Das Museum für Kommunikation und die Fotostiftung stehen deshalb schon länger in Kontakt, um die Bestände abzugleichen. Die Fotostiftung Graubünden ist eng mit dem Kanton und den Menschen verbunden und verwendet spannende Technologien zur Aufarbeitung des Bestands. Bald stellt sich heraus, dass eine Zusammenführung der Bestände einen grossen Mehrwert für die Nutzung des Fotobestands mit starkem regionalem Bezug darstellen würde. Die wunderbaren Fotografien können am Ort ihrer Entstehung mehr Wirkung erzielen, indem sie Erinnerungen untermalen und den Dialog anstossen. Denn eine Sammlung hat zwar einen materiellen Wert, sie ist aber vor allem ein Kulturgut. Und Kulturgut entfaltet seinen wahren Wert erst im Dialog.
Im Museum für Kommunikation entschieden Direktion und Stiftungsrat deshalb, den Bestand an seinen Entstehungsort zurückzugeben. Diese Rückgabe auf nationaler Ebene ist selten, kann aber ein wichtiges Signal sein. Sie kann funktionieren, wenn das grundlegende Ziel – der Erhalt des Kulturguts – gesichert ist. Für uns ist klar, dass eine Rückführung in die Ursprungsregion in diesem Fall die richtige Lösung ist.
Wie geht es weiter?
Ebenso wie das Museum für Kommunikation verfolgt die Fotostiftung Graubünden eine offensive Strategie zur Digitalisierung ihrer Bestände. Mit der Unterstützung modernster digitaler Möglichkeiten wie Künstlicher Intelligenz (zur Erschliessung des Bestands) aber auch Projekte mit der Öffentlichkeit werden dabei genutzt, um die Fotografien noch mehr Menschen zugänglich zu machen. Hierfür treten die Institutionen in einen Dialog mit den Menschen aus der Region. Damit werden die Hintergrunddaten zu den Bildern vervollständigt und diese deshalb leichter auffindbar. Aus wissenschaftlichen Datenbanken werden so immer mehr alltagsnahe Suchmaschinen, die auch für ungeübte User:innen einfach zu bedienen sind.
Hinzu kommt bei Engadin Press der Vorteil, dass die Werke überwiegend gemeinfrei sind. Sie können damit problemlos für Forschung und Nutzung bereitgestellt werden, was das Ziel der Erhaltung von nationalem Kulturgut unterstützt. Auch dafür ist es von Vorteil, wenn der Bestand nahe bei seinem geografischen Ursprung beheimatet ist.
Als Museum erhalten wir Kulturgut für künftige Generationen. Dabei geht unser Blick nicht nur über die Gegenwart hinaus, sondern auch über die Grenzen unseres Hauses. Diese Rückgabe erhöht den Nutzen der Fotografien für die Gesellschaft, ohne die Sicherung des Kulturguts zu gefährden. Deshalb ist es für uns richtig, diese einzigartigen Bilder aus der Hand zu geben, um sie dorthin zu bringen, wo sie für die interessierte Bevölkerung einen Mehrwert schaffen.
Autor
Johannes Sauter, Leiter Sammlungen, Museum für Kommunikation, Bern