Himmelwärts! Höhenflüge und Bruchlandungen der Schweizer Luftfahrtpioniere
Der «älteste Traum der Menschheit» – frei wie ein Vogel durch die Lüfte zu fliegen und von oben auf die Welt zu blicken – wurde anfangs des 20. Jahrhunderts Realität. Auch in der Schweiz hoben wagemutige Pioniere in aus heutiger Sicht primitiven Flugzeugen ab, und prägten durch ihre Erfolge und Missgeschicke das sogenannte «heroische Zeitalter» der Fliegerei.
Als 1903 die Brüder Wright den ersten Motorflug mit einem selbstgebauten Doppeldecker hinlegten, läuteten sie damit weltweit die Pionierzeit der Luftfahrt mit sogenannten «schwerer als Luft»-Fluggeräten ein. Da die leistungsschwachen Motoren für schwerere Materialien nicht taugten, bestanden die ersten Flugzeuge hauptsächlich aus Holz; die Tragflächen waren mit Leinwand bespannt. Innerhalb weniger Jahrzehnte wandelten sich die fragilen, amateurhaft zusammengebauten Holzgerüste hin zu aerodynamischen Ganzmetall-Konstruktionen mit einziehbarem Fahrwerk und kraftvollen Triebwerken. Diese rasante Entwicklung verdankt man nicht nur dem Erfindergeist und der Ingenieurskunst, sondern auch den mutigen Männern und Frauen, die in der gefährlichen Pionierzeit, als die Maschinen unzuverlässig und die Sicherheitsvorkehrungen quasi inexistent waren, ihr oft noch junges Leben aufs Spiel setzten, um die Fliegerei dorthin zu bringen, wo sie heute ist. Die Pionierjahre am Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Zeit der Rekordjagd in Sachen Flughöhe, -weite und -dauer, sowie der Erstüberquerungen von Gewässern und Gebirgen.
In der Schweiz stand man den neuartigen Maschinen anfangs noch skeptisch gegenüber. Deshalb mussten aspirierende oder schon geschulte Schweizer Piloten zuerst im Ausland ihren Traum des Fliegens ausleben. So machten etwa der St. Galler Robert Gsell, der Waadtländer Marcel Lugrin oder der Genfer Emile Taddeoli ihren Pilotenschein in der Flugschule des französischen Pioniers und Flugzeugbauers Louis Blériot, der 1909 mit seinem Überflug des Ärmelkanals weltberühmt wurde. Gsell war danach bis 1912 als Pilot für die Dornier Flugzeug GmbH in Johannisthal bei Berlin tätig. Der Tessiner Enrico Cobioni arbeitete als Werkpilot für die Firma Caproni in Italien, wo er zwischen 1908 und 1912 diverse Geschwindigkeits- und Flugdauerweltrekorde aufstellte. Der Waadtländer Edmond Audemars und der Genfer François Durafour waren ihrerseits in den USA tätig.
Auch die Schweiz hebt ab
Erste Flugversuche fanden in der Schweiz dementsprechend spät statt. An den in Colombier (NE) organisierten «Flugtagen» vom 9. bis 11. Januar 1910 konnte wegen der schlechten Wetterlage kein einziges Flugzeug starten. Den ersten Flug vom helvetischen Boden aus – vom «Hüpfer» der Dufaux Brüder 1909 abgesehen – machte der Deutsche Paul Engelhard am 10. März 1910 über dem zugefrorenen St. Moritzersee. An den vom Club Suisse d’Aviation (CSA) veranstalteten Flugtagen in der französischen Gemeinde Viry am Genfersee flogen dann unter anderem die Schweizer Edmond Audemars, Armand Dufaux und Ernest Failloubaz.
Am 10. Mai 1910 flog zum ersten Mal ein Schweizer Staatsbürger in einem Flugzeug aus Schweizer Fabrikat: Der erst 17-jährige Ernest Failloubaz startete in Avenches mit einer von seinem Fliegerkameraden René Grandjean gebauten Maschine. Der Überflug des Genfersees durch Armand Dufaux im August 1910 war das nächste nationale Highlight. Im September desselben Jahres gelang dem peruanisch-französischen Piloten Jorge «Geo» Chávez die erste Alpenüberquerung. Von Brig aus flog er über den Simplonpass. Leider hielten die Flügel seiner fragilen Blériot-Maschine beim Sinkflug den starken Luftströmungen nicht stand und Chavez stürzte über Domodossola tödlich ab. Drei Jahre später überflog Oskar Bider das Gebirge erneut, diesmal in fast 4000m Höhe. Diese Glanzleistung, die auf seine Erstüberquerung der Pyrenäen im Januar 1913 folgte, machte Bider in der Schweiz zum Volkshelden. Im selben Jahr gelang Edmond Audemars der Erstflug von Paris nach Berlin. Zu weiteren erwähnenswerten – wenn auch etwas späteren – Meilensteinen der Schweizer Fliegerei gehören die erste Landung auf dem Mont Blanc von François Durafour im Juni 1921 (die erste Landung auf mehr als 4000m) und der Afrikaflug von Walter Mittelholzer, der als Erster in einem Wasserflugzeug von Europa nach Südafrika reiste (7. Dezember 1926 bis 20. Februar 1927).
Grandjean, Failloubaz, Dufaux, Bider, Mittelholzer – das sind einige der Namen, die in die Geschichtsbücher eingingen. Vielen Fliegern blieb dieser Ruhm jedoch verwehrt, denn in dieser tückischen Branche war der Erfolg keineswegs garantiert. Rückschläge und Enttäuschungen gehörten hingegen zur Tagesordnung. Der Zürcher Fritz Weilenmann, zum Beispiel, schaffte es trotz vieler Bemühungen nie zum lizenzierten Piloten. An einem Schaufliegen in St. Moritz (4. Februar 1912) demonstrierte er noch sein Können im selbst umgebauten Farman-Doppeldecker, stürzte jedoch bei seiner Brevet-Prüfung ab und verletzte sich dabei schwer. Dem Berner Erwin Schwarz gelang der erfolgreiche Flug im selbstgebauten Flugzeug nie: Nach mehreren gescheiterten Anläufen und zwei Abstürzen stellte er 1913 seine Versuche ein. Adolf Schaedler wurde zwar später ein gestandener Militärpilot und Flugzeugkonstrukteur, sein erster Flug wurde ihm jedoch fast zum Verhängnis: seine «Daedalus 2», in die er viel Geld und Schweiss investiert hatte, stürzte nach erfolgreichem Start aus etwa 8 Metern Höhe über der Berner Allmend ab. Schaedler, der kopfüber aus dem Apparat geschleudert wurde, kam mit einer Gehirnerschütterung davon.
Die Geburt der Schweizer Luftwaffe
Die Einstellung der offiziellen Schweiz zum Fliegen änderte sich abrupt mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs. Im Sommer 1914 wurde der Kavallerieoffizier und Pilot Theodor Real vom Schweizer Militär, das bis dahin nur über eine Fesselballonkompanie verfügte, beauftragt, eine Fliegertruppe zu gründen. Die Anfänge der Schweizer Luftwaffe waren bescheiden. Real, der nur über geringe Mittel verfügte, musste improvisieren: die Ballonhalle auf der Berner Allmend wurde kurzerhand zum Flugzeughangar umfunktioniert, und die ersten Piloten traten den Dienst mit ihrem Privatflugzeug oder mit aus der Zivilgesellschaft requirierten Maschinen an. Unter der Führung von Oskar Bider kamen viele Flieger zusammen, die sich zuvor schon mit ihren Pionierleistungen einen Namen gemacht hatten. Auch die meisten im Ausland tätigen Schweizer Piloten kehren aus ihrem Exil zurück, um in einer Zeit des auflodernden Nationalismus ihren Dienst für das Vaterland zu leisten. Bald migrierte die Truppe von Bern nach Dübendorf, wo im Winter 1914 der Militärflugplatz eröffnet wurde. Von den anfänglichen Blériot-, LVG- und Farman-Maschinen wurde bald auf speziell für das Militär gebaute Flugzeuge aus Schweizer Fabrikat gewechselt.
Fliegen als Traum – für Reiche und Mutige
Fliegen war schon damals eine sehr kostspielige Leidenschaft. Die ohnehin schon teuren Flugzeuge wurden bei der Landung oft beschädigt und benötigten regelmässig Reparaturen – wenn sie überhaupt noch zu retten waren und keine neue Maschine erworben werden musste. Nicht selten stammten daher die jungen, ehrgeizigen Piloten aus wohlhabenden Familien, wie etwa Georges Cailler, Sohn des gleichnamigen Schokoladefabrikanten, oder Edmond Audemars aus der berühmten Uhrenmacherdynastie. Viele Piloten opferten ihr ganzes Vermögen für ihren Traum – so der schon erwähnte Ernest Failloubaz (1892-1919), Sohn eines reichen Weinbauern aus Vallamand (VD), der seine gesamte Erbschaft erfolglos in den Aufbau einer Flugschule und einer Flugzeugfabrik in Avenches investierte, und daraufhin völlig verarmt an Tuberkulose starb.
Das Pilotenleben war nicht nur teuer, sondern auch gefährlich. Motoren setzten häufig aus, die Flugzeuge neigten dazu, sich bei der Landung zu überschlagen, und ihre Belastbarkeit stiess bei Luftströmungen, Turbulenzen oder abrupten Manövern schnell an ihre Grenzen. Fallschirme gab es zu dieser Zeit – zumindest in der Schweiz – noch nicht…
Es verwundert deshalb kaum, dass ein beachtlicher Teil der ersten Schweizer Pilotengeneration in Flugunfällen ums Leben kam. Das prominenteste und wahrscheinlich auch tragischste Beispiel dafür ist der Absturz von Militärpilot und Volksheld Oskar Bider, der sich – obwohl allen Berichten nach von Natur aus besonnen und vorsichtig – nach einer durchzechten Nacht von seinen Kameraden zu einem Akrobatikflug überreden liess. Am 7. Juli 1919 stürzte er in der Nähe des Flugplatzes Dübendorf tödlich ab. Seine Schwester, die Schauspielerin Leny Bider, nahm sich aus Kummer und Sorge um die Zukunft am gleichen Tag noch das Leben. Das ganze Land trauerte um die berühmten Geschwister, die heute noch gemeinsam in Langenbruck (BL) begraben liegen. Auch der bereits erwähnte Enrico Cobioni (1881-1912), der Solothurner Theodor Borrer (1894-1914) und der Freiburger Léon Progin (1886-1920) kamen bei gewagten Akrobatiknummern an Flugshows ums Leben.
Zu weiteren tödlich verunglückten Schweizer Piloten der Pionierzeit zählen Hans Schmid (1879-1911), Ernst Rech (1891-1913), Marcel Lugrin (1891-1915), Emile Taddeoli (1879-1920), Albert Cuendet (1883-1933) und letztendlich auch Robert Gsell (1889-1946), der nach unzähligen Motor- und Segelflügen und einer erfolgreichen Karriere als Flugexperte im März 1946 bei einem Segelflug den Tod fand. Auch der berühmte Walter Mittelholzer (1894-1937) stürzte tödlich ab, wenn auch beim Klettern und nicht beim Fliegen...
Wie man sieht, forderte das vom russischen Flugpionier Alexander Raevskij treffend getaufte «heroische Zeitalter der Luftfahrt» auch in der Schweiz so manches Opfer. Die vorzeitig aus dem Leben geschiedenen Piloten vereinte der Drang, die Erde hinter sich zu lassen und der Schwerkraft trotzend himmelwärts zu steigen. Furchtlosigkeit, Ehrgeiz, Beharrlichkeit und eine beträchtliche Dosis an jugendlichem Übermut zeichneten sie aus. Nicht umsonst war es üblich, diese Helden mit Ikarus-Statuen zu würdigen…
Hintergrund: Das Archiv von Robert Paganini
Die Bilder dieses Artikels stammen aus dem vom Museum für Kommunikation beherbergtem «Luftpostarchiv» des Schweizer Chemikers Robert Paganini (1866-1950). Dieses liefert eine umfassende Dokumentation zur Geschichte der Schweizer und internationalen Luftfahrt von ca. 1900 bis 1950 bestehend aus Büchern, Zeitungsausschnitten, Korrespondenzen und einer grossen Anzahl an Fotoabzügen. Es beinhaltet auch den Nachlass des Schweizer Flugpioniers Robert Gsell (1889-1946), mit u.a. Korrespondenzen und Fotoalben.
Autor
Roger Steinmann, Fachmann Information und Dokumentation, Museum für Kommunikation, Bern
Kommentare (2)
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Felix Steinmannvor 4 TagenAntwortenSalü Roger - wieder ein interessanter Bericht, den du da verfasst hast. Ich vermisse aber Hermann Geiger - ein Pionier der alpinen Rettungsflüge - zuerst mit Flugis auf den Gletschern oder Hängen und dann später mit dem Helikopter. Und er hätte gut in deine Aufzählung gepasst, denn er ist auch tödlich verunfallt. Ä gueti Ziit und viel Grfeuts :-)
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RSvor 22 Stunden0 Gut Schlecht AntwortenLieber Felix, Danke für deinen Kommentar. Hermann Geiger (1914-1966) flog etwas nach dem Zeitraum, den ich in diesem Beitrag abdecken wollte. Ausserdem kommt er - überraschenderweise - im Fotobestand des Paganini Luftpostarchivs nicht vor. Nichtsdestotrotz eine weitere sehr interessante Persönlichkeit! :)
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