Im Land der (Papier-)Berge
Liubov Dubynets ist vor dem Krieg aus der Ukraine in die Schweiz geflüchtet. Von Oktober 2022 bis Februar 2023 unterstützt sie bei uns im Museum für Kommunikation. Als Projektmitarbeiterin leistet sie wertvolle Hilfe beim Sammlungsteam, persönlich bringt sie uns neue Sichtweisen auf unseren Alltag. Zum Abschluss hat Liubov diesen Blog-Post geschrieben – und uns mit der Themenwahl überrascht.
An einem Samstagmorgen schlage ich meiner Familie vor, gemeinsam ins Museum für Kommunikation zu gehen. Ich bin gespannt auf unseren Rundgang – einerseits will ich unbedingt den Ort zeigen, an dem ich arbeite, andererseits will ich mir die Ausstellung als Gast selbst nochmals ansehen. So wie ein Kunstwerk den Geist immer wieder aufs Neue anregt, wenn man es einmal erlebt hat, regt mich die Planetopia-Ausstellung dazu an, über die vertrauten, aber nicht immer offensichtlichen Dinge nachzudenken. Meine Schwester ist sofort von Planetopia fasziniert. Sie und meine Mutter essen seit einigen Jahren kein Fleisch mehr und stoßen bei anderen Menschen oft auf Unverständnis. Das ist meiner Meinung nach meist weniger auf persönliche Voreingenommenheit, als auf mangelndes Bewusstsein zurückzuführen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass in meiner ukrainischen Schule auch nur eine einzige Unterrichtsstunde diesem Thema gewidmet war (ich hoffe, dass sich die Situation inzwischen geändert hat).
In der Schule wird uns eine riesige Menge an Informationen vermittelt. Nicht alles davon ist nützlich und später anwendbar. Vor allem aber werden einige grundlegende Dinge wie Bewusstsein, Folgen und Auswirkungen des Konsums auf die natürlichen Ressourcen und die Umwelt nicht ausreichend behandelt. Das kann später im Erwachsenenleben zu Unwissenheit führen. Jedes Mal, wenn ich also die Kinder einer ganzen Schulklasse am Eingang eines Museums sehe, die mit der ihnen innewohnenden Spontaneität und Neugier auf eine Führung warten, werde ich nicht müde, mich darüber zu freuen. Diese junge Generation hat eine so großartige Möglichkeit, Dinge, Phänomene und Geschichte außerhalb der langweiligen Seiten von Schulbüchern auf eine interessante und anschauliche interaktive Weise kennen zu lernen.
Ich kann mich nicht als 100% bewusste Verbraucherin bezeichnen, wie jeder andere Mensch auch. Manchmal überwiegen das Bedürfnis nach Komfort und Bequemlichkeit, natürliche menschliche Freuden und Wünsche, die Vergänglichkeit von Trends und Innovationen gegenüber Nützlichkeit, Zweckmäßigkeit und Ökologie. Aber Umweltfragen und der Wunsch, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten etwas für die Nachhaltigkeit zu tun, sind für mich immer ein wichtiges und spannendes Thema.
Einer meiner ersten Eindrücke als ich in der Schweiz ankomme, ist die Aufmerksamkeit und Sensibilität der Schweizer:innen für wiederverwertbare Materialien, Lebensmittelverpackungen, Papiertüten in Supermärkten und das scheinbar komplizierte Sortier- und Sammelsystem für Abfälle. Von außen betrachtet sieht die Situation nahezu perfekt aus.
Eine weitere Sache, die mir auffällt, ist die Liebe der Schweizer:innen zu Briefen. Was wie ein jahrhundertealtes, übliches Kommunikationsmittel aussieht, ist für mich eine längst vergessene Neuheit. Am Anfang bereitet mir jeder Brief einen kleinen Nervenkitzel! Ein Gefühl, das aus der Kindheit stammt, wenn man den Briefkasten öffnet und erwartet, einen Brief zu finden, wie ein Geschenk unter dem Weihnachtsbaum. Sogar der Beruf des Postboten klingt für mich fast verträumt und erinnert mich an die berühmte Zeichentrickfigur aus meiner Kindheit, Prostokvashino, den Postboten Pechkin. Nach einer Weile bin ich jedoch über die Praktikabilität der Zustellung von Rechnungen und verschiedenen Dokumenten per Post verwirrt. Manchmal muss ich eine Woche oder länger auf einen solchen Brief warten! Das stellt mich vor die Frage, warum man nicht einfach eine Nachricht per E-Mail schicken könnte. Das dauert nicht mehr als eine Minute. Zweitens kommt mir der Gedanke, dass es möglich wäre, den Verbrauch von viel Papier zu reduzieren. Ich brauche mindestens fünf Briefe, um die Bankkarte und alle damit verbundenen Daten zu erhalten, obwohl man dies vermeiden könnte, wenn ich alles direkt von der Bank erhalten hätte. Obwohl es möglich ist, den größten Teil des verwendeten Papiers zu recyceln, bin ich immer wieder erstaunt, dass niemand die Situation problematisch findet. All diese Überlegungen und ein Besuch bei Planetopia veranlassen mich dazu, das Thema von der statistischen Seite her zu beleuchten.
Briefe, Energie und Altpapier
Öffentlichen Zahlen zufolge ist die Schweiz eines der führenden Recyclingländer der Welt. Aber sie ist auch bei der Müllmenge das drittgrößte Land in Europa – nur Dänemark und Norwegen erzeugen mehr Abfall. Wir verbrauchen täglich eine enorme Menge an Papier in den verschiedensten Formen: von der morgendlichen Zeitungslektüre auf dem Weg zur Arbeit, über Schulhefte, Bücher und Arbeitsunterlagen bis hin zu Einkaufstüten, Servietten und Toilettenpapier. Papier ist als Ressource für uns wichtig und notwendig, wird aber leider oft gedankenlos verwendet und landet viel zu schnell im Altpapier. Bereits ein Zehntel des Altpapiers besteht aus herkömmlicher Werbung, die in den Briefkästen landet. Nach Angaben des World Wide Fund for Nature (WWF) werden mehr als 40 % des weltweit gefällten Holzes zu Papierprodukten verarbeitet und etwa die Hälfte davon stammt aus der Abholzung von Primärwäldern. Unter dem Gesichtspunkt der Umwelt und der natürlichen Ressourcen - Wald, Wasser und notwendige Energie - macht die Verwendung und Herstellung von Recyclingpapier einen Unterschied, insbesondere bei Hygienepapier, das nicht mehr recycelt werden kann.
Neu hergestelltes Papier aus frischen Fasern, besteht hauptsächlich aus Zellstoff, der aus Holz gewonnen wird. Die Trennung des Zellstoffs vom Holz erfordert viel Energie und Wasser. Um die Fasern von den übrigen Holzbestandteilen zu trennen, werden chemische Zusätze verwendet. Im Vergleich dazu sind die Chemikalien, die beim Recycling von Altpapier verwendet werden, viel harmloser. Gleichzeitig spart es bis zu 60 % Energie und bis zu 70 % Wasser. Es wird weniger CO2 ausgestoßen und es entsteht weniger Abfall.
Aber leider können Papierfasern nur bis zu sieben Mal recycelt werden, so dass der ursprüngliche natürliche Rohstoff Holz nicht vollständig aus der Papierproduktion verschwinden kann. Das bedeutet, dass wir bewusster mit der Verschwendung von Papier umgehen müssen.
Es scheint, dass heute immer mehr Medien (Zeitungen, Bücher, Zeitschriften) digitalisiert werden und dass der Verbrauch von traditionellem Papier theoretisch langfristig zurückgehen sollte. Aufgrund des rasanten Wachstums des Online-Handels nimmt jedoch auch die Produktion von Verpackungsmaterial zu. Und für die Herstellung von Verpackungen werden wieder Papier und Pappe benötigt. Auch das schlechte Image von Plastik trägt dazu bei. Ein Beispiel sind die Papiertüten, die in allen Supermärkten zu finden sind. Die Deutsche Umwelthilfe sagt, dass ihre braune Farbe nicht bedeutet, dass sie aus Recyclingpapier hergestellt sind, sondern dass sie aus besonders langen und starken Zellulosefasern bestehen, die nur aus frischem Holz gewonnen werden können. Folglich ist die Herstellung einer einzigen Papiertüte umweltschädlicher als die einer Plastiktüte: Eine Papiertüte kann nur dann umweltverträglich sein, wenn sie mehrfach wiederverwendet wird.
Apropos Verpackungsmaterial: Auch die Schweizerische Post weist darauf hin, dass für die Herstellung von Papiertüten viermal mehr Rohstoffe verwendet werden als für Kunststofffolie.
E-Mail als Lösung?
Um auf das Thema Briefe zurückzukommen, beschliesse ich zu prüfen, ob die E-Mail ein absolutes Allerheilmittel sein könnte. Ich bin fest davon überzeugt, dass man durch die Abschaffung des unnötigen Briefversands den Verbrauch von finanziellen, zeitlichen und logistischen Ressourcen, die sich auch auf die Umwelt auswirken, erheblich reduzieren kann. Der Hauptgrund für meine Überlegungen ist, dass wir in der Ukraine kaum Briefe mit der Post verschicken. Ich kann mich kaum daran erinnern, wann ich in der Ukraine das letzte Mal einen Brief erhalten habe. Der einzige Brief, den ich einmal im Monat in meinem Briefkasten gefunden habe: eine Stromrechnung. Alle anderen Informationen und damit verbundenen Kommunikationsprozesse sind digitalisiert und automatisiert, so dass ich mir über viele von ihnen nie wirklich Gedanken gemacht habe.
Als ich jedoch die E-Mail aus einer anderen Perspektive betrachte, öffnet sie mir die Augen. Sie ist gar nicht so fehlerfrei. Jedes Mal, wenn wir eine Nachricht tippen, verbraucht unser Computer Strom. Wenn wir auf "senden" klicken, wird die Nachricht an das Netzwerk weitergeleitet, das ebenfalls Strom verbraucht. Danach landet die E-Mail irgendwo in der Cloud, in einem Rechenzentrum. Sie alle verbrauchen eine riesige Menge Strom und hinterlassen einen ökologischen Fußabdruck. Der gesamte weltweite Energieverbrauch für digitale Post entspricht etwa dem Energieverbrauch der Schweiz! Handgeschriebene Briefe stoßen im Vergleich dazu im Durchschnitt doppelt so viel CO2 aus wie E-Mails. Ein Großteil davon ist auf den Transport zurückzuführen, den die Post langfristig zu reduzieren verspricht. E-Mails werden jedoch viel häufiger verschickt und das in vielen Fällen einfach aus Bequemlichkeit.
Wir sehen, dass die E-Mail vielleicht umweltfreundlicher ist, wenn sie in der gleichen Häufigkeit wie herkömmliche Briefe verwendet wird, aber da sie von Natur aus ein effektiveres Kommunikationsmittel ist, weil sie weniger Aufwand erfordert und häufiger verschickt wird, gleicht sie den Unterschied im Primärenergieverbrauch wieder aus.
Abschließend kann ich für mich selbst sagen, dass ein echter Brief manchmal mehr Gewicht hat und emotionale Reflexionen hervorruft, ein Brief mit positivem Inhalt kann zu etwas Wertvollem werden, an das man sich erinnert. Abgesehen davon würde ich es vorziehen, Informationen über Konten und Verwaltungsvorgänge per E-Mail zu erhalten, denn das würde die Effizienz vieler Vorgänge erhöhen und möglicherweise den bürokratischen Aufwand für deren Automatisierung verringern. Und anstatt eine E-Mail zu schicken, kann es manchmal sowohl für die Umwelt als auch für die Beziehungen gut sein, im nächsten Büro vorbeizuschauen und ein dringendes Problem bei einer Tasse Kaffee zu besprechen.
Es ist nicht einfach, eine informierte Verbraucher:in zu sein. Die richtige Entscheidung zu finden, ist immer eine Suche nach dem Gleichgewicht, sowohl mit sich selbst als auch mit der Welt um uns herum.
Noch ein paar Zahlen:
- Die Schweizer:innen verbrauchen jährlich rund 190 kg Papier pro Kopf, weltweit sind es rund 57 kg.
- Nach Angaben des Forest Stewardship Council, FSC, sind derzeit nur 50 % der Schweizer Wälder zertifiziert und ihr Status ist unter Kontrolle.
Autorin
Liubov Dubynets, Projektmitarbeiterin im Museum für Kommunikation, Bern