Navigieren auf der MfK-Website

Migration, Heimat und Museum

Kulturorte sind gesellschaftliche Akteure. Was können sie leisten, um Menschen mit Fluchterfahrung einzubeziehen und einen Einstieg in die neue Umgebung zu erleichtern? Das haben wir im Museum für Kommunikation mit einem Projekt ausgelotet – und sind zu überraschenden Ergebnissen gekommen.

Es ist Bachar, der mir einen überraschenden neuen Blick auf unsere Sammlung eröffnet. Wir haben eine der grössten öffentlichen Briefmarkensammlungen der Welt. Doch ein Besuchsmagnet ist sie schon länger nicht mehr. Im Studienraum, wo ein Teil der Sammlung sichtbar ist, trifft man meistens ältere Semester an. Umso erstaunter bin ich, als ich Bachar eines Tages mit strahlenden Augen im Studienraum antreffe. Der talentierte junge Mann ist Lernender bei der Swisscom und für ein halbes Jahr bei uns im Team. Beim Stöbern ist er auf Briefmarken aus Syrien gestossen, seiner Heimat. Ich bin berührt zu sehen, was es beim ihm auslöst. Er hat unerwartet ein Stück Heimat gefunden – das vermutlich in Syrien selbst gar nicht mehr erhalten ist. Das unscheinbare Sammlungsobjekt erhält so plötzlich einen Gegenwartsbezug und löst Emotionen aus. Beim Postautohorn, beim Roboter oder bei der Vitrine zur Pandemie haben wir das erwartet. Es ist toll zu sehen, dass dies auch an Orten geschieht, wo wir es nicht einkalkuliert haben. Doch welche Bezugspunkte gibt es eigentlich bei uns im Museum für Menschen, die geflüchtet sind? Menschen, die aus einer anderen Kultur stammen und hier in der Schweiz neue Wurzeln schlagen möchten oder müssen?

 

Ein Projekt lotet das Potential aus

Diversität und Inklusion sind uns schon lange wichtig, doch anfangs 2020 entscheiden wir, dem Thema mehr Platz einzuräumen. Wir starten im Museum den Prozess für eine Diversitätsstrategie. Parallel dazu gleisen wir Ende 2020 ein zweites Projekt auf, das unser Haus als Ort der Begegnung für Menschen mit Fluchterfahrung in den Fokus rückt. Können wir als Kulturort auch einen Beitrag leisten, um die Kultur der Schweiz zu vermitteln und zu den Menschen, die neu hier ankommen, einen Dialog aufbauen? Wir wollen diesem Potential auf die Spur kommen. Mit dem Verein Multaka finden wir die kompetente Begleitung für einen explorativen Prozess. Der Verein hat bereits erfolgreiche Führungen mit geflüchteten Menschen im benachbarten Bernischen Historischen Museums aufgebaut und pflegt ein weites Netzwerk rund ums Thema Flucht.

Der Plan war gut, die Realität konfrontiert uns aber erst einmal mit verschiedenen Herausforderungen. Nicht nur dass Corona dazwischenfunkt, auch das wichtigste Drittmittelgesuch wird abgelehnt und knappe zeitliche Ressourcen erschweren den Prozess. Von Projektleiterin Veronica Reyes (Zuständige für Diversität und Inklusion im Museum) ist sehr viel Flexibilität gefordert und der Zeitplan muss mehrmals angepasst werden. Die guten Vorsätze werden bereits zu Beginn auf die Probe gestellt.

Vor einer Wand mit aufgemalten Engelsflügeln stehen vier Personen mit schwarzen Oberteilen. Auf dem Oberteil ist jeweils ein Spruch mit weisser Schrift - zwei davon in Arabisch. - vergrösserte Ansicht
Die schwarzen Kommunikator:innen-Shirts sind vertraut im Museum für Kommunikation. Dass die Inhalte darauf in arabisch und farsi gedruckt sind, ist allerdings ein neues Erlebnis! Halima und Lailoma geben zusammen mit Saddam (nicht auf den Fotos) zuerst dem Museumsteam…
Auf einem Tisch liegen Bilder von festlichen Tischen in verschiedenen Kulturen. Wo möchten Sie sich hinsetzen, steht auf einem Zettel. Dahinter stehen zwei Kommunikatorinnen mit arabischen Schriftzeichen auf den T-Shirts. - vergrösserte Ansicht
…und später den Besuchenden Einblick in ihre Geschichte und Erlebnisse.

Doch das Projektteam lässt sich nicht entmutigen. Mit dem gegenseitigen Kennenlernen beginnt ein lehrreicher Austausch auf Augenhöhe. Für uns ist es besonders spannend, direkten Einblick in die Lebenswelt von geflüchteten Menschen zu erhalten und mit ihnen zusammen einen neuen Blick auf das Museum zu werfen. Neben vielen kleineren Ergebnissen entstehen daraus bis Ende 2022 drei konkrete Pilotprojekte:

  • Multaka-Guides als Gastkommunikator:innen: Die Spezialität unseres Museums ist die persönliche Begegnung. Normalerweise übernehmen das unsere Kommunikator:innen als Gastgebende in der Ausstellung. Mehrmals ergänzen wir das Team aber auch mit Multaka-Guides als Gastkommunikator:innen. Sie kommen so in direkten Kontakt mit unseren Besuchenden. Es entsteht ein Austausch zwischen den verschiedenen Welten. Halima, Lailoma und Saddam erzählen von sich, kommen in den Dialog mit dem Publikum und oft tauchen auch bei den Besuchenden Migrationsgeschichten auf. Das ist letztlich nicht überraschend, denn Migration ist in der Menschheitsgeschichte der Normalfall. Die Frage ist nur, wie viele Generationen wir zurückschauen. Für beide Seiten entsteht so ein spannender Austausch mit persönlichen Geschichten.
  • Angebot «Quatschen im Museum»: An zwei Nachmittagen laden wir jeweils eine Gruppe von Asylsuchenden aus dem Bundesasylzentrum in unser Museum ein. Gemeinsam nehmen eine Kommunikatorin und eine Betreuerin des Asylzentrums die Gruppe mit auf einen Rundgang durchs Museum. Mit gezielten Aktivitäten regen sie den Austausch in der Gruppe an, diskutieren mit ihnen und zum Schluss rundet ein Zvieri den Besuch ab. Damit wollen wir bei den Asylsuchenden Hemmungen gegenüber dem Museum abbauen und ihnen unser Haus als unentgeltliches Angebot vorstellen. Herausfordernd ist dabei die heterogene Gruppe. Interessen, Sprachen und Alter sind sehr unterschiedlich, Übersetzungen durch die Mitarbeiterin des Asylzentrums unumgänglich. Das ist für den Dialog natürlich nicht förderlich. Dennoch gelingt es uns, das Interesse an unseren Ausstellungen zu wecken. Bereits am nächsten Tag kommen zwei Schwestern aus dem Iran wieder, um die Ausstellung noch vollständig zu erkunden.
  • Angebot «Folgerichtig Du»: Wie können wir als Museum Menschen sichtbar machen, die nicht mit unseren drei Ausstellungssprachen Deutsch, Französisch und Englisch aufgewachsen sind? Wie können wir sie als Besuchende und als Produzent:innen einbeziehen? Während vier Tagen zeichnen wir Geschichten zu einem Museumsobjekt auf Video auf. Die Besuchenden erzählen in ihrer Muttersprache und machen so die Vielfalt sichtbar. Eine fremde Sprache zu sprechen, wird in diesem Kontext zu einem Plus – die Menschen aus anderen Kulturen erhalten Raum und fühlen sich willkommen. Gleichzeitig zeigt dieser Diversitäts-Check auch uns auf, wie vielfältig unsere Gäste sind und neue Geschichten finden Eingang ins Museum. Der Austausch führt zu vertieftem Verständnis für unterschiedliche Sichtweisen und zu einer gegenseitigen Annäherung. Herausfordernd ist dabei einmal mehr die Sprache, aber auch der Zeitaufwand ist grösser als ursprünglich erwartet.
Blick auf eine grosse Vitrine mit vielen Objekten zur Kommunikationsgeschichte: historische Telefone, Computer aus den 1980er-Jahren, Plakate, Kabel, Spielsachen... - vergrösserte Ansicht
Die Vielzahl an Objekten in der Zone Tools unserer Kernausstellung bietet auch für Menschen mit Fluchtgeschichte Anknüpfungspunkte.

Was haben wir gelernt?

Das Projekt ist für das Museum und die beteiligten Mitarbeitenden auf verschiedenen Ebenen sehr lehrreich. Zuallererst haben wir uns auf persönlicher Ebene weiterentwickelt und dazu gelernt. Im direkten Kontakt zu erleben, mit welchen Herausforderungen Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund in ihrem Leben konfrontiert sind; zu sehen wie sie dabei den Mut nicht verlieren und trotz allem für ihre Ideale und Ideen kämpfen, das beeindruckt unser Team nachhaltig. Und es führt uns vor Augen wie privilegiert wird oft sind, ohne es zu merken.

Dann gibt es kleine Dinge, die unerwartet eine grosse Rolle spielen. Daraus lernen wir vor allem, wie wichtig es ist, solche Projekte gemeinsam mit den Betroffenen umzusetzen. Gerade wenn es um Menschen geht, die sonst nicht im Museum sind, fehlt uns oft zentrales Detailwissen. Zwei Beispiele illustrieren dies:

  • Wir haben bereits seit mehreren Jahren Gratiseintritt für Gruppen in Integrationsprojekten. Anfangs 2022 haben wir den freien Zugang erweitert und gewähren allen geflüchteten Personen mit Ausweis der Kategorie F, N oder S kostenlosen Eintritt. Was wir erst in diesem Projekt realisiert haben: Menschen im Bundesasylzentrum haben noch keinen dieser Ausweise und fallen damit durch die Maschen unseres Netzes.
  • Die Gruppen aus dem Bundesasylzentrum haben wir selbstverständlich gratis eingeladen – Eintritt, Führung und Zvieri hat das Museum spendiert. Nicht bedacht haben wir den Transfer. Um ihr knappes Taggeld zu sparen, ist die Gruppe zu Fuss angereist und nach längerem Marsch eher Müde im Museum angekommen. Das war definitiv nicht motivierend – insbesondere mit dem Ausblick, dass am Ende nochmals ein Fussmarsch zurück ins Asylzentrum ansteht.

Auf übergeordneter Ebene zeigt uns das Projekt, dass erfolgreiche Ko-Kreation und Partizipation viel Vertrauen und Zeit brauchen. Die Balance zwischen Einbringen und Weglassen, zwischen Mitteilen und Zuhören zu finden, ist nicht immer einfach. «Letztlich geht es oft auch um Loslassen. Nur so entsteht der Raum für vielfältige Perspektiven», fasst Veronica Reyes eine wichtige Erkenntnis aus dem Projekt zusammen.

Entstanden sind damit erste Fussspuren. Mit den nächsten Schritten können wir sie zu einem kleinen Weg ausbauen.

Autor

Nico Gurtner, Leiter Marketing & Kommunikation, Museum für Kommunikation, Bern

Teilen

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

X