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«Verzeu mau!» Persönliche PTT-Geschichte(n)

Archive sind Schatzkisten. Doch meistens verstecken sich die spannenden Geschichten in Akten und Dokumenten, sind verpackt in säurefreien Kartonschachteln und Rollregalen im Untergrund. Dass Archivarbeit auch sehr lebendig sein kann, zeigt das Projekt des PTT-Archivs «Verzeu mau!» (Berndeutsch für: «Erzähl mal!»).

«Aber das interessiert doch niemanden – wir zuhinterst im Emmental», meint Werner Roth, der ehemalige Posthalter von Gohl in der Gemeinde Langnau. Und dann erzählt er von seinen langen, weiten Briefträger-Touren über die beschaulichen Emmentaler Hügel, hin zu einzelnen Bauernhöfen und zu kleinen, abgelegenen Anwesen, die entfernt von den grösseren Dorfverbünden in der schönen Landschaft verstreut liegen. Auf diesen Touren hat er manche lustige Episode erlebt, wie die, als er einen Hundebiss mit Schnaps desinfizieren musste.

Werner Roth erzählt von einer Zustelltour, auf der er von einem Hund gebissen wurde. Als die Schmerzen immer stärker wurden, half nur noch Hochprozentiges. Quelle: PTT-Archiv, «Verzeu mau!», Hundebiss und Schnaps.

Das Gespräch mit Werner Roth führte Hanspeter Müller, im PTT-Archiv Hanspi genannt, im Sommer 2021. Hanspi selbst war Posthalter in Bern. Der ältere Herr mit wachem Blick, einem freundlichen Lächeln und silbergrauen, nach hinten gekämmten Haaren kam bei der Auflösung der PTT im Jahr 1998 in den Genuss einer frühzeitigen Pension. Als umtriebiger Rentner engagiert er sich in Theatervereinen, produziert Radiosendungen für «Radio Silbergrau» und fährt leidenschaftlich gerne Fahrrad.

Hanspi ist ein passionierter Gelbblüter – in den Adern der Postangestellten fliesse gelbes Blut, wie die ehemaligen Mitarbeitenden immer wieder selbst bekräftigen. Seit 2016 arbeitet er auch als freiwilliger Mitarbeiter im PTT-Archiv – und ist da seit letztem Jahr hauptsächlich als Anekdotenjäger für das neue Projekt «Verzeu mau» unterwegs. Bei ehemaligen Pöstlern wie Werner Roth, aber auch bei allen anderen, die ihre eigene persönliche Kurzgeschichte zur PTT erzählen möchten.

Der handgefertigte Situationsplan zeigt die verstreuten Hof-Strukturen rund um das Emmentaler Dorf Gohl. Posthalter Roth musste viele der ländlichen Liegenschaften zu Fuss aufsuchen. Quelle: PTT-Archiv, Post-199 A 00003_Gohl_007. - vergrösserte Ansicht
Der handgefertigte Situationsplan zeigt die verstreuten Hof-Strukturen rund um das Emmentaler Dorf Gohl. Posthalter Roth musste viele der ländlichen Liegenschaften zu Fuss aufsuchen. Quelle: PTT-Archiv, Post-199 A 00003_Gohl_007.
Auf ter tabellarischen Poststellenchronik stehen die wichtigsten Ereignisse im Zusammenhang mit der lokalen Poststelle. So erfolgte in Gohl 1964 die Ernennung Werner Roths zum Nachfolger seines Vaters. Für sämtliche PTT-Poststellen der Schweiz führten die jeweiligen Posthalterinnen und Posthalter solche Chroniken. Quelle: PTT-Archiv, Post-199 A 0003_Gohl_003. - vergrösserte Ansicht
Auf der tabellarischen Poststellenchronik stehen die wichtigsten Ereignisse im Zusammenhang mit der lokalen Poststelle. So erfolgte in Gohl 1964 die Ernennung Werner Roths zum Nachfolger seines Vaters. Für sämtliche PTT-Poststellen der Schweiz führten die jeweiligen Posthalterinnen und Posthalter solche Chroniken - sie sind vollständig überliefert im PTT-Archiv. Quelle: PTT-Archiv, Post-199 A 0003_Gohl_003.

Die Idee

Das Erzählen von persönlichen Erlebnissen ist im PTT-Archiv nichts Neues. Im Rahmen des wissenschaftlichen Oral-History-Projekts «Wir, die PTT» befragte das Archiv-Team seit 2014 über 100 ehemalige PTT-Mitarbeitende zu ihrer Karriere. Hanspi war ebenfalls Zeitzeuge im Rahmen des wissenschaftlichen Projekts. Angeregt durch die eine oder andere PTT-Anekdote, die Hanspi zwischendurch am Pausentisch im Archiv erzählte, entstand im Sommer 2020 die Idee, den Bereich Oral History mit einem neuen Partizipationsprojekt zu ergänzen.

Pöstlerinnen oder Telecömmler (Mitarbeitende der PTT Telekom) sollten uns ihre ganz persönlichen Anekdoten erzählen – spontan, ohne Fragebogen, ohne viel Aufwand. So ist «Verzeu mau» ein Format, das offen für eine Vielzahl von Geschichten aus dem Kommunikationsbereich ist – und wenn es sich in der Praxis derzeit vor allem an ehemalige Mitarbeitende richtet, sollen künftig auch jüngere Menschen mit ihren Erlebnissen zum ersten Smartphone oder dem letzten Telefonkabinen-Gespräch beitragen können.

Projektstart und Pandemie

Im Oktober 2020 war eigentlich alles aufgegleist. Aber die zweite Corona-Welle und machte Reisen und Hausbesuche unmöglich. «Machen wir es doch über Skype. Das ist besser als gar nicht», war Hanspis Vorschlag. Was als Notlösung anlief, funktionierte überraschend gut. Obwohl Hanspi und die allermeisten seiner nicht mehr ganz jungen Gesprächspartner nicht wirklich digital natives waren, stellte die Technologie kein Hindernis dar. Im Gegenteil: Viele schätzen die Abwechslung zum Pandemiealltag und die Möglichkeit, ihre Geschichten wenigstens auf diese Weise erzählen zu können.

Einer dieser ersten Online-Zeitzeugen war der ehemalige Postautochauffeur Gerhard Rentsch. Er gab einige seiner Postauto-Abenteuer zum Besten – und nicht nur das. Das Zoom-Meeting nutzte er gleich noch für eine Führung durch das kleine, private Postautomuseum.

Gerhard Rentsch erzählt, wie aus einem leidenschaftlichen Hobby sein Traumberuf wurde. Ausserdem gibt er Einblick in sein beeindruckendes privates Postautomuseum. Quelle: PTT-Archiv, «Verzeu mau!», Traumberuf Postautochauffeur.

Welche Leute erzählen welche Geschichten?

Trotz erfreulichen ersten Monaten mit Skype, Zoom und Konsorten griff Hanspi ab dem Frühjahr 2021 doch zur Handkamera und reiste auf der Jagd nach Anekdoten fortan durch die Schweiz. Dabei vergrösserte sich nicht nur der geografische Radius. Zu Beginn zapfte er auf seiner Suche nach Anekdoten seinen unmittelbaren PTT-Kollegenkreis an. Ein Jahr später macht der ehemalige Pöstler zunehmend neue Bekanntschaften.

Auf Werner Roth aus Gohl stiess Hanspi nicht über sein eigenes Netzwerk. «Das ist eigentlich ganz lustig, wie ich auf den kam», schildert Hanspi. «Wir haben die Schweizer Familie abonniert. Meine Frau fragte, ob ich diesen Posthalter von Gohl kenne. Dem war nicht so.» Doch Hanspi rief an. Ihm war sofort klar, dass der ehemalige Posthalter dieses abgelegenen Dorfs bestimmt einiges erlebt haben musste, auch wenn Roth selbst nicht überzeugt davon war, dass seine Erlebnisse irgendjemanden interessieren könnten. «Die meisten denken zuerst, dass ihre eigenen Erlebnisse unwichtig und bedeutungslos sind», erklärt Hanspi. Nach einem Monat habe er deshalb nochmals angerufen. Dann willigte Roth ein. Hanspi machte sich auf den Weg.

Der ehemalige PTT-Mitarbeiter Hanspeter Müller in einer ehemaligen Uniform. - vergrösserte Ansicht
Hanspeter Müller, kurz Hanspi, ist ein leidenschaftlicher PTTler. Seit 2016 arbeitet er als freiwilliger Mitarbeiter im PTT-Archiv und sammelt als Anekdoten für das neue Projekt «Verzeu mau». Hier ist er selbst als Geschichtenerzähler im Museum für Kommunikation unterwegs.

Viele Zeitzeug:innen machen so etwas zum ersten Mal. Hanspi baut dann jeweils gemächlich seine kleine Kamera auf. Das gibt Zeit zum Schwatzen, nimmt den Leuten die Angst und sie beginnen zu erzählen. Nicht selten werden dann aus den im Vorgespräch fünf angekündigten Geschichten plötzlich viel mehr.

Die Geschichten im Archiv

Ein gutes Jahr nach dem Start von «Verzeu mau!» sind mehr als 350 Anekdoten zusammengekommen. Die allermeisten sind lustig, manche schier unglaublich. Wie etwa die von Posthalter Christian Locher, der eines Tages unverhofft zum Geburtshelfer wurde.

Christian Locher erzählt von seiner Zeit als Posthalter in Niedermuhlern (BE). Auf seinen Zustelltouren griff er der lokalen Bevölkerung, wenn immer möglich, auch bei nicht-postalischen Angelegenheiten unter die Arme. Quelle: PTT-Archiv, «Verzeu mau!», Pöstler als Geburtshelfer.

Es gibt aber auch die anderen Geschichten, die traurigen, bisweilen sogar tragischen, wie etwa Erzählungen von Post-Überfällen, die für die Beteiligten traumatische Folgen hatten. Aber auch solche Geschichten sind es wert, erzählt zu werden. Auch sie sind wichtige Zeugnisse der PTT-Geschichte.

Überhaupt finden sämtliche Anekdoten, die Hanspi im Rahmen von «Verzeu mau!» erfasst, ihren Weg ins PTT-Archiv. Hier werden sie gemäss geltender Archivstandards erschlossen und so für interessierte Besucherinnen und Besucher nutzbar. Seit Sommer 2021 veröffentlicht das Archiv ausgewählte Anekdoten regelmässig auf der Website.

Die ehemalige Telefonistin Marlies Stark erzählt eine Anekdote aus dem Jahr 1967. Ein Kunde reagierte nicht auf die wiederholten Anrufe des telefonischen Weckdienstes. Schuld daran war eine Katze. Quelle: PTT-Archiv, «Verzeu mau!», Die telefonierende Katze.

«Verzeu mau» brachte dem PTT-Archiv nicht nur Geschichten, sondern immer wieder auch Zuwachs in Form von handfesten Objekten oder Archivquellen, die die beteiligten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen abliefern. Die Objekte, Gegenstände aus dem Arbeitsalltag oder Fotoalben, Formulare und Handnotizen, erweitern das offizielle Konzernarchiv um wichtige individuelle Zeugnisse.

Das Schild der ehemaligen Poststellen Bern 13 Matte und Bern 17 Weissenbühl brachten die Zeitzeuginnen mit ins Archiv. - vergrösserte Ansicht
Die Schilder der Poststellen Bern 13 Matte und Bern 17 Weissenbühl brachten ehemalige Poststellenhalter als Zeitzeugen ins PTT-Archiv. Hanspi war der Posthalter von Bern 17 Weissenbühl. Im Archiv zieren die Tafeln nun die Wände des Magazin 1.

«Verzeu mau!» ist ein partizipatives Projekt und damit auch offen für Ihre Geschichte. Wenn Sie Anekdoten im Zusammenhang mit der PTT oder überhaupt im Kontext der Kommunikation erzählen können, dann können Sie sich gerne bei uns melden.

PTT-Archiv
Telefon: 031 331 11 51
E-Mail: archiv(at)mfk.ch

Autoren

Jonas Veress & Sascha Deboni
Wissenschaftliche Mitarbeiter
PTT-Archiv, Köniz

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